Zum absoluten Finale des diesjährigen Festivals gibt Fazil Say jeweils einen anspruchsvollen Konzertabend in Hamburg und Flensburg. In der Elbphilharmonie mutet er sich zwei energiegeladene Stücke als Klaviersolist zu, das Klavierkonzert G-Dur von Maurice Ravel und die Rhapsody in Blue von George Gershwin.
Zur Abrundung dieser starken Themen legt das Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra noch Fazil Says 6. Sinfonie "Ein 100-jähriges Kind" oben drauf und macht das Konzert damit zu einem einzigartigen Kraftpaket moderner Musik aus Jazz, Blues und konzertanter Sinfonik.
Fazil Say ist in Ankara geboren, hat in Düsseldorf und Berlin studiert und wohnt nach einem längeren Aufenthalt in New York mit festem Wohnsitz in Istanbul. Er spricht fließend deutsch. Einerseits ist er als Interpret herausragender Klavierliteratur bekannt und andererseits werden seine eigenen Kompositionen sowohl mit als auch ohne ihn aufgeführt. Er hat musikalisch seine persönliche Sprache in einer Mischung aus westlich geprägter Sinfonik mit orientalischen Klängen unter Beimengung international jazziger Elemente gefunden.
Vor allem aber ist Fazil Say auch ein hervorragender Pianist. Das hat er an diesem Abend mehrfach bewiesen. Zunächst im Klavierkonzert G-Dur von Ravel. Dieses Stück hat viele jazzige Farbakzente und ähnelt immer wieder Gershwins "Rhapsodie in Blue". Diese beiden Komponisten haben sich sehr gut gekannt und bewunderten sich gegenseitig. Gemeinsam haben sie Jazz-Clubs in New York besucht, was insgesamt eindeutige Spuren in ihren Kompositionen hinterlassen hat. Fazil Say spielt seine Soloparts mit der ihm eigenen Mimik und Gestik. Mit dem Orchester aus Istanbul ist er bestens vertraut, der Dirigent Carlo Tenan lässt ihn gewähren. Auf den lebhaft ersten Satz mit Peitschenhieb, markantem Bläsereinsatz und selten schönem Harfensolo folgt eine lang anhaltende Klaviermelodie ohne Orchesterbegleitung, feinfühlig von Fazil Say umgesetzt. Die Übergänge zu den kraftvollen Bläsern und Schlagzeugen sind fließend, wobei sich das Klavier zu keinem Moment überspielen lässt. Mit den sorgfältig vom Dirigenten eingeleiteten Schlussakkorden endet dieses Werk.
Unmittelbar anschließend interpretiert Fazil Say die mitreißende "Rhapsody in Blue" von Gershwin. Er zelebriert seine Partien auswendig und mit höchster Spielfreude, wie gewohnt nicht ohne schauspielerische Gesten. Den Takt unterstützend setzt er dabei auch seine Füße auf dem Boden ein. Mit den allseits bestens bekannten Melodien wird der bis auf den letzten Platz besetzte Konzertsaal in einen einzigen Klangrausch versetzt. Für den Solisten Say bedeutet dieser Abend intensiven Einsatz. Gleichwohl gibt er eine kleine Eigenkomposition als Zugabe. Bescheiden aber glücklich nimmt er den verdient heftigen Applaus entgegen. Das Publikum hat besondere Freude an seiner lustigen Mimik zum höchst anspruchsvollen Klavierspiel. In der Pause meint eine Zuhörerin scherzhaft, der Künstler erinnere sie in seinem Aussehen und Auftreten bei allem Respekt an die Comic-Figur des Gargamel, dem ständigen Gegenspieler der Schlümpfe.
Den nächsten Höhepunkt gibt das Istanbuler Orchester mit der 6. Sinfonie von Say. Sie trägt den Beinamen "Ein 100-jähriges Kind", komponiert zum 100. Jahrestag nach Gründung der Republik Türkei. Mit diesem Titel will der Komponist ausdrücken, dass die Türkei in seinen Augen trotz ihres langen Bestehens noch jung, lernend und voller Entwicklungsmöglichkeiten ist. Er beschreibt die guten und schlechten Zeiten der 1923 so hoffnungsvoll von Atatürk gegründeten Republik Türkei. Entstanden aus den Trümmern des osmanischen Reiches und seiner überkommenen Gesellschaftsordnung wollte Atatürk einen modernen Staat unter klarer Trennung von Staat und Religion formen. Der Weg ist kompliziert, weniger von Erfolgen, eher mehr von Irrungen und Wirrungen geziert. Ein wenig spöttisch zeichnet er den Weg musikalisch abwechslungsreich mit still brütenden Momenten und dann wieder vorwärts stürmenden Märschen auf. Er beschreibt differenziert den zwiespältigen Zustand zwischen westlich geprägten Erfahrungen und dem heutigen Zustand seines Heimatlandes. Die Sinfonie ist ein Auftragswerk des privaten Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra.
Fazil Say und Dirigent Carlo Tenan in der Elbphilharmonie
Das ohnehin reich bestückte Orchester ist mit großem Schlagwerk-Ensemble einschließlich besonderer türkischer Instrumente ausgestattet. Es spielt kontrastreich mit aufbrausenden Bläserkaskaden und Schmerz ausdrückenden Schlagzeugeinsätzen. Die vier sprachlich untertitelten Sätze gehen konzentriert ohne Pausen ineinander über. Sie lauten übersetzt: Traurige Menschen, Anatolische Utopie, Widerstand gegen Ignoranz und Unerschrockene Geisteshaltung. Das hell begeisterte Publikum verabschiedet die Künstler mit lang anhaltendem Applaus.
Fotos: (c) Hildegard Przybyla