Am Freitag, den 27.09.2025 bekam die indische Medienkünstlerin Shilpa Gupta den mit 25.000 Euro dotierten Possehl-Preis 2025 für internationale Kunst und eröffnete gleichzeitig in der Kunsthalle St. Annen ihre erste umfassende Museumsausstellung in Deutschland.
In der Ausstellung „Shilpa Gupta. we last met in the mirror“ sind auf vier Stockwerken insgesamt 25 Arbeiten aus fast 25 Jahren der vielschichtigen Künstlerin zu sehen. Die 1976 geborene Künstlerin, die im indischen Mumbai lebt und arbeitet, gilt als wichtigste Stimme der zeitgenössischen Kunst in Südasien. Ihre künstlerischen Positionen orientieren sich an Konzeptkunst inspiriert von Alltagsästhetik. Dabei arbeitet sie medienübergreifend immer ganz nah an der Realität. Ihre hauptsächlichen Themen sind die Auseinandersetzung mit inneren und äußeren Grenzen, Fragen der Gegenwart wie Zugehörigkeit, Zensur, Religion, Meinungsfreiheit und Menschenrechte. Dementsprechend werden in ihren Arbeiten Geschlechter- und Klassengrenzen, die gerade in Indien immer noch eine ganz wichtige Rolle spielen, aufgegriffen. So spart sie nicht an Kritik am augenblicklichen autokratischen Herrscher in Indien, dem nationalistischen Hindu-Präsidenten Modi.
Zensierte Gedichte in Flaschen gesprochen, Foto: (c) Holger Kistenmacher
Besonders die Sprache und die in ihr innewohnende Macht bildet einen Schwerpunkt. Dabei geht es um Zensur und Unterdrückung von Poesie und Sprache, wie in der Arbeit, wo sie zensierte Gedichte in Flaschen gesprochen und dann verschlossen hat. Texte von verbotenen Schriftsteller*innen aus verschiedenen Jahrhunderten bekommen so wieder Gewicht.
Mit Hilfe von Kunstblut in Flaschen hat sie Stellung bezogen gegen Unterdrückung und Gewalt, indem sie Schande ausruft über bestimmte Verfehlungen von Religion oder Politik. Ein besonders ergreifender Raum wird dominiert von einer Sound-Licht-Installation. Im fast dunklen Stockwerk kreisen Lampen und Mikrophone, aus denen internationale Widerstandslieder wie „Bella Ciao“ oder „We shall overcome“gesungen werden. Protestlieder aus verschiedenen Regionen und Zeitaltern der Welt setzen ein Zeichen des Aufbegehrens und der Solidarität.
Shilpa Gupta, Karten-Zeichnung mit dem Umriss von Indien, Foto: (c) Holger Kistenmacher
Auch der Himmel ist sehr wichtig für die Künstlerin, denn er ist unteilbar. Sterne, die auf den Flaggen der verschiedensten Staaten auftauchen, kommen in verschiedenen Werken zur Geltung, mal als gestickte Variante auf Leinwand, wo sie an ihren tatsächlichen Lagen in den jeweiligen National-Fahnen wieder auftauchen. Es tauchen aber auch immer wieder Grenzen auf, physische wie reale, wie in Zeichnungen oder Installationen. So hat sie in verschiedenen Ländern jeweils 100 Menschen mit Kohle die Umrisse ihres Landes aus dem Gedächtnis zeichnen lassen. Dann wurden alle Arbeiten übereinander gelegt und ergaben seltsam filigrane Werke, die belegen, dass Karten und Grenzen in den Köpfen der Menschen völlig unterschiedlich sein können.
Auch die konkrete Grenze zwischen Indien und Pakistan, wo es immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen und Kriegen kommt, hat sie vermessen mit einem Faden. Aufgewickelt sieht dieser aus wie ein großes weißes Ei und verweist auf die Absurdität von Gewalt und Gegengewalt.
Interview-Serie mit jungen Mädchen über ihre Lebensträume, Foto: (c) Holger Kistenmacher
In einem anderen Werk hat sie Interviews mit jungen Mädchen zwischen 10 und 12 Jahren geführt - über ihre Träume und Wünsche für die Zukunft. Viele wollten möglichst kreative Berufe, wie Künstlerin, Journalistin oder Lehrerin ergreifen. Es fragt sich, wie viele davon Jahre später ihre Träume wirklich realisieren konnten in einer stark patriarchalen Gesellschaft wie in Indien.
Ein besonders eindringliches Werk ist ein kleines Objekt. Die Skulptur aus Kanonenmetall zeigt die innere Höhle eines Mundes. Der Titel der Arbeit verweist auf Gewalt gegen Frauen: „A Liquid, the Mouth Froze“ aus dem Jahr 2018. Dabei steht der geöffnete Mund als Sinnbild für Sprache, Widerstand und Verwundbarkeit, während sie gleichzeitig damit die Brutalität, mit der autokratische Systeme mit nicht konformen Künstler*innen umgehen, anprangert. Einer Frau wurde mitten auf der Strasse eine Flüssigkeit in den offenen Mund gegossen und verätzt. Ähnlich wie in den zensierten Gedichten in Flaschen wehrt sie sich damit künstlerisch gegen Zensur und Unterdrückung von Wahrheit und anders gelagerten Meinungen.
Shilpa Gupta: I live under your Sky, Foto: (c) Holger Kistenmacher
Hoch oben an einer Wand hat sie von der Kuratorin Noura Dirani in einer Lichtschrift die Zahl 2652 installieren lassen. Damit dokumentiert sie die Anzahl von Schritten zwischen der Grabeskirche, der Al Aqsa-Moschee und der Klagemauer in Jerusalem. Eine weitere wunderbare Leuchtschriftarbeit zeigt erneut, dass der Himmel unteilbar ist: „I live under your Sky“.
Die ausserordentlich gesellschaftskritischen Arbeiten der jungen indischen Künstlerin zeigen auf, wie Kunst sich mit der Widersprüchlichkeiten in allen Gesellschaften auseinandersetzen kann. Shilpa Gupta bezieht dabei sehr explizit Stellung gegen Unterdrückung von Wort und Bild und gegen jegliche Form von Gewalt. Dazu nutzt sie wunderbarerweise alle Mittel der künstlerischen Arbeit von Zeichnungen, Malerei, Foto, Video, Skulptur, Installation, Performance, Interviews, Sound und Licht.
Man findet sie immer auf der Seite der Unterdrückten und der Verletzlichsten. Aber auch der partizipatorische Weg zwischen Künstler und Publikum spielt bei ihr eine Rolle. So darf jeder Besucher/Besucherin der Ausstellung jeweils einen Stern der neuesten Arbeit von ihr mit nach Hause nehmen. Dafür hat sie ihr eigenes Gewicht in Wachs gießen lassen, daraus verschieden große Sterne geformt und im Kellerraum auf den Boden gelegt (siehe Titelfoto). So existiert die aktuellste Arbeit, bei der Noura Durani eine Woche lang zusammen mit der Künstlerin voller Freude in der Küche gewerkelt hat, neben der ältesten Arbeit im gegenüber liegenden Raum aus dem Jahre 2000.
Noura Dirani (Direktorin der Kunsthalle St. Annen) und Shilpa Gupta, Foto: (c) Felix Koenig
Ganz große politische Kunst, die den Possehlpreis absolut verdient hat und wiederum beweist, dass der Preis an wirklich besonders wichtige internationale Künstler und Künstlerinnen vergeben wird, wie die bisherige Liste von Doris Salcedo (2019) aus Kolumbien und Matt Mullican (2022) aus den USA belegt.
Neben der Ausstellung, die bis zum 1. März 2026 in den Räumlichkeiten der Lübecker Kunsthalle gezeigt wird, gibt es wieder wie gewohnt ein breit gefächertes Begleit-Programm, wie das Künstlerinnen-Art-Dinner, Workshops für Kinder, den St. Annen-Talk, dialogische Rundgänge und Führungen und kreative Austausch-Programme zu Themen wie: „Was ist Kultur“ oder „Von Verbindungen und Grenzen“. Darüber hinaus wird es noch einen Katalog mit Texten von der Kuratorin und der Künstlerin geben.
Fotos: (c) Holger Kistenmacher