'Longing to tell' mit Akua Naru und Ensemble Resonance, Foto: (c) Fabian Hammerl

Internationales Sommerfestival auf Kampnagel - 2. Woche
Kontrovers, kreativ, komplex, kritisch

Kontrovers, kreativ, komplex, kritisch lauten die Attribute der drei künstlerischen Programmpunkte, die ich in der zweiten Festivalwoche auf Kampnagel besuchen durfte. Aber man könnte genauso gut sagen: mutig, mitreissend, wortgewaltig und witzig.

Es brauchte auf jeden Fall eine Menge Courage, sich inmitten eines Publikumskreises absolut nackt (außer weißer Tennissocken und Sneakers), stampfend und schwitzend auf die Bühne zu wagen. Genau das machten die beiden brasilianischen Tänzer, Choreografen und Performer Davi Pontes und Wallace Ferreira. In ihrem Stück „Repertorio N.3 hinterfragen sie mit ihrem Tanzstück Themen wie Gewalt gegen Queer-Personen, wie aber auch Widerstand dagegen, Selbstermächtigung und Selbstverteidigung.

Davi Pontes und Wallace Ferreira: Repertorio N. 3, Foto: (c) Fe AvilaDavi Pontes und Wallace Ferreira: Repertorio N. 3, Foto: (c) Fe Avila

Super synchron stampfen und tänzeln sie durch den Raum, kommen dem Publikum provokativ ganz nahe. Energetisch und rhythmisch vermessen sie den gesamten Platz zwischen dem Publikum und ihren schwitzenden, glänzenden Körpern, ja drängen sich teilweise sogar zwischen die Leute. Einige sind erschreckt, andere belustigt, manche blicken verschämt durch die Runde. Natürlich ist dieses Schauspiel zwischen Posing, Voguing, stolzem Stampfen und verschmitztem Humor relativ harter Tobak für nicht queere Menschen.

Ein tänzerisches Spiel zwischen Gewalt, Liebe, Sexualität und Symbolismus, wie aber auch Elementen aus dem Capoeira und der Kampfkunst. Der Schweiß strömt in wahren Rinnsalen über die glänzenden Körper, die sich voller Selbstbewusstsein lasziv räkeln oder schüchterne Posen einnehmen. Die Nacktheit spielt irgendwann keine Rolle mehr, auch wenn das sicherlich nicht alle im Publikum so sehen. Trotzdem war die erfrischende Selbst-Inszenierung voller Offenheit und Mut und dabei Konventionen sprengend und wurde am Ende mit donnerndem Applaus gewürdigt.

Davi Pontes und Wallace Ferreira: Repertorio N. 3, Foto: (c) Fe AvilaDavi Pontes und Wallace Ferreira: Repertorio N. 3, Foto: (c) Fe Avila

Auf der großen Bühne der K6 stand dann eine sogenannte Blues Opera auf dem Programm: „Longing to tell“. Dabei handelte es sich aber eher um eine minimalistisch inszenierte Interpretation eines Buches der amerikanischen Soziologin Tricia Rose voller Musik aus dem klassischen Repertoire, nämlich dem 15-köpfigen Kammerorchester Ensemble Resonanz und einer Soul/Blues-Band rund um den Schlagzeuger Tyshawn Sorey. Dazu gab es Rap, HipHop, Spoken Words, Gospel und Blues von der Conscious Rapperin „akua naru“ sowie ihren drei Begleitsänger*innen Monique B. Thomas, Raymond Thompson und Journi Sings. Dabei sitzt die Band aus Drums, Gitarre, Trompete, Klavier und Bass auf der linke Bühnenseite, die fünfzehn Musiker*innen des Ensemble Resonanz mit ihren Streichinstrumenten auf der rechten Seite. Dazwischen in der Mitte der Bühne stehen drei kleinere Podeste für akua naru und ihre drei Gesangs-Mitstreiter*innen.

Eine wirkliche Inszenierung ist kaum wahrnehmbar. Inhaltlich geht es um die Lebensgeschichte einer schwarzen Frau namens Linda Rae und ihrem gesellschaftlichen Abstieg durch Missbrauch, Drogen, Teenagerschwangerschaften und gewalttätigen Partnern. Eine Höllenfahrt von Leben voller Trauer, Verzweiflung, Tränen, Schlägen und kleinen Hoffnungsschimmern. Unterteilt ist die gesamte Geschichte in 17 Kapiteln, die exemplarisch zeigen, wie in den USA seit den 1980er Jahren das Geschehen eigentlich politisch geplant erscheint. Die Kriminalisierung und Entrechtung besonders Schwarzer Frauen durch Justizsystem, Drogenfahndung und einer Industrialisierung des Gefängnis-Systems war kein Zufall, sondern entspricht einem perfiden Plan.

Akua Naru: Longing to tell - A Blues Opera, Foto: (c) Fabian HammerlAkua Naru: Longing to tell - A Blues Opera, Foto: (c) Fabian Hammerl

Anfänglich lächelnd und cool rappt akua naru den langen Text, während die anderen Sänger*innen teilweise verstärkend und wiederholend einzelne Phasen des Lebens der jungen Frau kommentieren. Mal als böse Großmutter oder gewaltätiger Ehemann spielen sie kleine Rollen, in dem sie mal als Soul, dann als Gospel oder Blues das Leben der jungen Frau musikalisch begleiten. Diese durchdachte minimalistische Inszenierung macht schon Sinn, wenn man die Gewaltigkeit des Textes intensiv verfolgt. Viele Besucher*innen nutzen dafür einen extra bereit gestellten Text als Ablaufplan, weil man der Fülle der Wörter und der begleitenden mal poetischen, dann wieder donnernden Musik nur schwer folgen kann.

Die Regisseurin und Dramaturgin Anta Helena Recke setzt mehr auf eine besondere Licht-Inszenierung, denn auf theatralische Szenen oder Bühnenaufbau. Immer steht der reine Text im Mittelpunkt und das ist auch angesichts der Dramatik des gesamten Geschehens auch richtig und wichtig. Insgesamt handelte es sich also weniger um eine Theater- sondern eher um eine musikalische Arbeit, nämlich um ein begeisterndes szenisches HipHop-Konzert mit exzellenten Musikern und Sänger*innen. Eine große Arbeit auf der großen Bühne, ein absolutes Highlight des diesjährigen Internationalen Sommerfestivals.

Akua Naru und Ensemble Resonanz: Longing to tell - A Blues Opera, Foto: (c) Fabian HammerlAkua Naru und Ensemble Resonanz: Longing to tell - A Blues Opera, Foto: (c) Fabian Hammerl

Dann noch die neueste Produktion einer weiteren Ikone des Festivals, die irische Choreografin und Tänzerin Oona Doherty, die seit Jahren das Publikum mit ihren Stücken begeistert. Für das Jahr 2025 hat sie aus der persönlichen Geschichte ihres Urgroßvaters und verschiedener mystischer Erzählungen aus Irland ein skurriles Tanztheaterstück zusammen erarbeitet, das zwischen Wahnsinn, Bösartigkeit, Fantasie und märchenhaften Elementen hin und her tanzt. Erzählt wird ein bedrückendes Sitten- und Gesellschaftsbild aus dem Arbeiter-Milieu vom Anfang des Jahrhunderts, als viele Menschen wegen der allgemeinen Armut ihre Kinder weggeben mussten.

Ihr Urgroßvater war 10 Jahre alt, als er aus seiner Familie gerissen wurde und an zwei alte Tanten nach Belfast gegeben wurde. Dort musste er schon als Kind im Schlachthof arbeiten, um für Nahrung und Unterkunft bei den schrägen Damen zu sorgen. Gespielt und getanzt wird der kleine Junge von der jungen und androgynen amerikanischen Tänzerin Faith Prendergast. Wegen der dicken Brillengläser wird der Junge gemoppt, drangsaliert und verlacht. Überall erfährt er physische und psychische Gewalt.

Oona Doherty: Specky Clark, Foto: (c) Luca TrufarelliOona Doherty: Specky Clark, Foto: (c) Luca Trufarelli

Das ganze Geschehen wird von Doherty mit schrägem Personal, abgedrehten Kostümen und einem grellen Bühnenbild konterkariert. Die beiden trutschigen Tanten sind verkleidete bärtige Männer, die kichernd und Zigaretten rauchend herumalbern, während ein roter Teufel und andere bärige Typen über die Bühne flitzen. Im Schlachthof muss der Junge ein quiekendes Schwein erschießen, das später an einem riesigen Kleiderbügel hängend wieder zum Leben erweckt wird. Bis dahin ist das Geschehen eher dramatisch theatralisch und mit dröhnender Musik unterlegt. Von Tanz ist noch nicht viel zu sehen bei dem ganzen Elend zwischen Schlachthof und Wohnzimmer. Viel Text in irischer Mundart, Slapstick und beißender Humor prägen das Spiel, das an James Joyce` Albträume denken lässt wie auch an die deformierten Gestalten aus der Malerei von Francis Bacon.

Dann aber beginnt der mystische Teil des Abend, ähnlich wie beim Halloween artet alles in einer großen Party aus. Die Realwelt wird zur Zwischenwelt, wo die Toten auferstehen und einen wilden Tanz auf die Bühne zaubern. Alle Ensemble-Mitglieder eskalieren auf der Bühne in ihren wilden Kostümierungen, während nur der kleine „Specky Clark“ genannte Junge um die Liebe und die Würde ringt. Wie in Billy Elliot geht es um Männlichkeit und Würde, verletzte Seelen und die Heilungskräfte der Liebe, um der Knechtschaft des harten Lebens in der irischen Realität zu entfliehen.

Oona Doherty: Specky Clark, Foto: (c) Luca TrufarelliOona Doherty: Specky Clark, Foto: (c) Luca Trufarelli

Die Musik dazu stammt von der Dubliner Irish-Folk-Band Lankum, die aber nicht wie die meisten ihrer musikalischen Kollegen die tief verwurzelte Melancholie ihres Volkes besingen und befiedeln, sondern mit elektronisch-akustischen Sounds dem Dunklen in der Seele der so lange geknechteten Iren neuen Raum gibt. Dröhnend und bedrohlich donnert es aus den Lautsprechern, während der tiefe, monotone Gesang der sardischen Obertonmusik des sardischen Sängers , Tenors und Jazz-Saxophonisten Gavino Murgia der Wut und der Trauer Ausdruck verleiht, auch wenn die wilden Party-Tänze anscheinend anderes vorgaukeln zu scheinen.

Wie nicht anders zu erwarten, wurde das Stück vom voll besetzten Saal mit dröhnendem Applaus abgefeiert, auch wenn die Thematik doch eher bösartig und schockieren war. Danach aber raus in die herrliche Sommernacht in den Avantgarden, wo schon hunderte Menschen mit leuchtenden Kopfhörern zur Silent-Party von JaJaJa abtanzen, während Bierchen und Joints kreisen und andere Besucher entspannt rund um das Migrantpolitan genüsslich schwatzend den vielfältigen Abend ausklingen lassen.

Entspannen im Avantgarden, Foto: (c) Holger KistenmacherEntspannen im Avantgarden, Foto: (c) Holger Kistenmacher

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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