In Anlehnung an den großen Filmkünstler David Lynch hatte der Leiter des Internationalen Sommerfestival 2025, Andràs Siebold das diesjährige Motto des künstlerischen Avantgarde-Festival auf Kampnagel in Hamburg „Räume zum Träumen“ ausgerufen. Dabei schien es sich am Beginn des Festivals eher um Albträume zu handeln.
Denn die Eröffnung lief schon einmal anders als geplant. Die Gewerkschaft Verdi hatte die Mitarbeiter der Kulturfabrik zu einem dreistündigen Streik aufgerufen, um die Geldgeber, die Hansestadt Hamburg zur Lohnerhöhung aufzufordern: „Applaus zahlt keine Miete“ war die kreative Parole. Also startete das Festival mit Verspätung.
Pakistanische Volksmelodien mit Ustad Noor Bakhsh im Avantgarden auf der Waldbühne, Foto: (c) Holger Kistenmacher
Ich war am Donnerstag vor Ort und erlebte zunächst ein sommerlich leichtes traditionelles Konzert des 81jährigen Musik-Virtuosen Ustad Noor Bakhsh aus Pakistan auf der wunderbaren Waldbühne im Avant-Garden. Begleitet von zwei weiteren Rhythmus-Musikern spielte der berühmte Weltstar der pakistanischen Volksmusik traditionelle Klänge aus der Region Belutschistan von der Markran-Küste. Der Altmeister spielte verträumt, aber auch in hoher Geschwindigkeit an der Benju, einer Zither mit Tasten. Exotische Klänge, die diverse Besucher, meist mit pakistanischen Wurzeln sofort zum Tanzen animierte.
Dann folgte die neueste Produktion von einer der Festival-Lieblinge, der belgischen Performance-Künstlerin Miet Warlop. In den letzten Jahren hatte sie immer wieder das Publikum mit anarchischen, wie aber auch humorvollen Aufführungen begeistert. Unvergessen der explodierende Sicherungskasten oder der über die Bühne stolzierende Cocktail-Tisch auf ellenlangen Beinen in wahnsinnigen Stilettos mit Kaffee-Service on top. Dada-Aktionen mit Schaumstoff-Würsten, die die Bühne fluteten oder atemberaubende Sportübungen, die sowohl dem Publikum wie den Performer*innen die Luft raubten, folgten.
Miet Warlop: Inhale Delirium Exhale, Foto: (c) Reinout Hiel
Jetzt also die neue Arbeit der Bildende-Kunst-Theater-Macherin, die im nächsten Jahr den belgischen Pavillon bei der Venedig Biennale bespielen darf: „Inhale Delirium Exhale“. Es begann vielversprechend mit zwei Darsteller*innen in übergroßen Pullovern mit Gipshänden, die sich am Bühnenrand gegenüber saßen und per Kinderreim abklatschten. Dass dabei die Hände langsam zertrümmert wurden, gehört zum Humor der Truppe. Dann wurde es farbenfroh. Unmengen an bunten Stoffbahnen, die auf Rollen über der Bühne hingen, knallten zu Boden, um sich zu entwickeln. Dafür hatte die Regisseurin einer berühmten Kleider-Schmiede über drei Kilometer Seidenstoff und kuscheliges Kaschmir-Gewebe abgeschwatzt.
Die ganze Aktion war nicht ganz ungefährlich, denn einer der Performer bekam so eine riesige Rolle auf den Kopf, konnte den Abend weiter machen, obwohl das „Horn“ am Schädel nicht zu übersehen war. Teilweise wickelten sich die Tänzer in die riesigen Stoffbahnen oder bildeten schöne Bilder mit Bergen und Landschaften aus Stoff, die von Windmaschinen bewegt wurden. Aber eigentlich war die Stunde Performance eher eine Materialschlacht mit Unmengen Stoff, denn das Material wurde entwickelt, zusammengerafft und wieder auf Rollen aufgewickelt. Sicherlich ein Kraftakt für die Akteure, aber ein besonderer Sinn der Aktion wurde nicht deutlich.
Miet Warlop: Inhale Delirium Exhale, Foto: (c) Reinout Hiel
Die Performance wurde als kathartisches Reinigungsritual betitelt oder über die Symbolik der Seide für Kopf und des Kaschmirstoffes für die Haut fabuliert, trotzdem muss ich sagen, dass diese Produktion doch eher zu den schwächeren Arbeiten der Ausnahme-Künstlerin zählte. Schade eigentlich, denn das Schluss-Bild mit Stoff-Bahnen, die durch geschlossene Jacken der Performer*innen gezogen wurden, war wieder recht bemerkenswert, mehr aber auch nicht, schade.
Dann folgte die eigentliche Eröffnungskonzert-Show der als Tanz-Choreografin angekündigten Theatermacherin Marlene Monteiro Freitas, die auf den Kapverdischen Inseln vor Afrika geboren ist und demnächst neben der österreichischen Choreografin Florentina Holzinger Teil der neuen künstlerischen Leitung der Volksbühne in Berlin werden soll. Angelehnt war das Stück an der Geschichte aus „Tausendundeine Nacht“ aus der arabischen Welt. Dabei geht es um den Sultan Shahryar, der beschließt, jede seiner Frauen am Morgen nach der Hochzeit hinrichten zu lassen, um sicherzustellen, dass sie ihn niemals betrügen können. Nur Scheherazade überlebt, weil sie ihm jede Nacht eine neue Geschichte erzählt und damit die Hinrichtung aufschiebt. Soweit, so gruselig! Monteiro Freitas machte daraus ein Bühnenspektakel aus Musical, groteskem Theater, Dada-Klamauk und teilweise brutalem Drama mit Percussions-Konzert.
Marlene Monteiro Freitas: NÔT, Foto: (c) Fabian Hammerl
Das Bühnenbild aus weißen Gitterkäfigen zwischen Knast und Krankenhaus, sowie diversen Betten und Waschkübeln verwirrte zunächst. Ein großer schwarzer Tänzer bewegte sich lasziv in weißem Röckchen nach Musik von Prince, während die anderen Darsteller*innen anscheinend noch mit Aufbau-Tätigkeiten zu tun hatten. Dann beginnt ein Tänzer eine wilde Rede zu halten, bekommt aber keinen Ton heraus. Es folgte das große Keuchen, Kotzen und Kacken, glücklicherweise aber nur pantomimisch dargestellt. Einzelne aus dem Publikum waren entsetzt, angewidert und empört, während andere „Hartgesottene“ aus den ersten Reihen sich über diese lustig machten, indem sie „ein weiteres Skandalstück beim Festival“ skandierten.
Währenddessen stolzierten drei Musiker auf Trommeln schlagend über die Betten, während andere dreckige Bettwäsche wuschen oder die behinderte Tänzerin Mariana Tembe über die Bühne wirbelte, obwohl sie keine Beine hat. Ihr Auftritt hatte nichts von Inklusion, sondern erschien völlig natürlich. Das mit „NÖT“ (kreolisch für Nacht) betitelte Stück entwickelte sich immer mehr zu einem Albtraum, ein wahrlich fieser Traum, den sich Festival-Leiter Andràs Siebold sicherlich anders vorgestellt hatte.
Marlene Monteiro Freitas: NÔT, Foto: (c) Fabian Hammerl
Schrille Töne und verstörende Bilder voll Gewalt und Blut, wie Selbstverletzungen und groteske Manga-Masken traktieren das Publikum. Es war anstrengend für alle Beteiligten, sowohl Darsteller wie Publikum. Scheinbar gab es kein Entkommen aus dieser albtraumhaften Welt, die Geschlechtergrenzen sprengt und mit Tanz nicht mehr viel zu tun hat. Trotzdem war es ein spannender Abend, der viele Gefühle weckte und zum diskutieren herausforderte. Ein schmerzhafter Abend, radikal, laut und irritierend, wie es meine Kollegin Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt analysierte.
Besonders gegen Ende des Stückes wurde es ein wahrer Parforce-Ritt durch die Geschichte aus Sexualität und Gewalt, wenn der Nick-Cave-Klassiker „The Merci Seat“ erklang, der sich mit jeder Strophe tiefer ins Gehirn bohrte: „An eye for an eye/ And a tooth for a tooth / And anyway I told the truth / And I`m not afraid to die“.