Natursinfonie, (c) MRP Matila Röhr Productions

61. Nordische Filmtage Lübeck
Mein erstes persönliches Zwischen-Fazit

Die ersten 10 Filme sind gesichtet, und ich bin gerade noch stark beeindruckt von der Naturdokumentation vom Finnen Marko Röhr, der mich mit seiner „Natursinfonie“ emotional voll erwischt hat.

Die atemberaubenden Bilder aus seiner finnischen Heimat, begleitet von der mitreißenden Orchestermusik des Filmkomponisten und Freund von Röhr, Panu Aaltio, lassen den Zuschauer ein Naturerlebnis sehen und hören, welches poetisch ergreift und das Herz erwärmt. Über und unter Wasser, im Sommer wie im Winter, bei gleißendem Sonnenlicht oder im dichten Schneetreiben, Marko Röhr zeigt eine von Menschen (noch) intakt gelassene Natur in all seiner Schönheit und Erhabenheit. Die Leinwandstars sind die Tiere zu Lande, in der Luft und unter Wasser. Da tollen Fischotter herum, trillern Vögel aller Größen und Arten ihr betörendes Lied, während majestätische Seeadler kreisen. Alles ist opulent mit der Kamera eingefangen, mal per Drohne, dann wieder in Superzeitlupe, grandios zusammengeschnitten, aber hauptsächlich durch die sensationelle Komposition von Panu Aaltio in Szene gesetzt.

Natürlich ist der Film ein Aufruf an alle, diese wunderbare Natur zu erhalten und zu schützen, aber Röhr will den Menschen vor allem zeigen, dass es diese außergewöhnlichen Welten noch gibt, trotz menschlicher Eingriffe und Klimawandel. Dieser sympathische Regisseur, der Städte hasst, („außer Lübeck natürlich“, wie er betonte), arbeitet seit vielen Jahren an seinen Naturfilmen und hat mit der Natursinfonie jetzt so etwas wie ein „Best Of“ seiner Bilder auf die sinfonische Musik von Aaltio montiert. Man wünscht ihm und seinem genialen Komponisten viele weitere Preise und möglichst viele Zuschauer, die sich noch von Bildern berauschen und von Musik ergreifen lassen können. Ein ganz großartiges Erlebnis.



Empfehlen kann ich außerdem einen weiteren Dokumentarfilm, der auch so einiges mit Lübeck zu tun hat: die norwegische Produktion „Munch in der Hölle“. Vordergründig geht es um die Eröffnung des hoffentlich 2020 endlich fertigen Museumsbau für ein Munch-Museum im Osloer Stadtteil Lambda. Gleichzeitig dokumentiert der Film das wechselvolle und chaotische Leben des legendären Malers Edvard Munch (1863 – 1944). Norwegens berühmtester Maler war ein ewig Getriebener, der ein unfassbar reichhaltiges Werk hinterlassen hat. Natürlich kennt jeder seinen „Schrei“ und „Die Madonna“, die auch schon einmal im Zentrum eines spektakulären Kunstraubes standen. Aber auch sein berühmtes Bild der Söhne von Max Linde, welches im hiesigen Behnhaus hängt, dürfte allen Lübeckern mit Kunstsinn bekannt sein.

Der Film zeigt den einsamen, oft durch Alkoholismus und psychische Probleme gebeutelten Künstler in all seinen Facetten. Alte Filmausschnitte, Fotos und Dokumente spiegeln ein Leben als Kampf gegen innere Dämonen. Munch war ständig unterwegs, auch wenn er fast nirgends wirklich ankam. Auch in Lübeck hat er gemalt und gehurt. Seine wilde, scheinbar unfertige Kunst strahlt bis heute aus und macht ihn noch in der Gegenwart zu einem der besten Maler aller Zeiten. Sein Gesamtwerk von mehr als 20.000 Grafiken, sowie über 1.000 Gemälden hinterließ er der Stadt Oslo, mit dem lang gehegtem Wunsch, endlich die Anerkennung als Künstler mit einem eigenen Museum zu finden.

Unfassbar machen die chaotischen Bilder seiner letzten Arbeitsstätten und seines Wohnhauses nahe Oslo, wo sich die wertvollsten Bilder stapelten. Der berühmte „Schrei“ war zum Beispiel einfach mit einem Nagel an der Wand gepinnt. Auch überrascht es, dass in einer Studenteneinrichtung die Wände voller Gemälde des Meisters waren und jeder Zeit einfach raus getragen werden konnten. Sogar über dem Pissoir hing ein Bild, welches heute unschätzbaren Wert hätte. Dementsprechend wurden Bilder geraubt, von Museumsmitarbeitern entwendet oder blieben einfach verschwunden. Ein Film nicht nur für Kunstfreunde, er bietet spannende Unterhaltung und viel Wissenswertes über einen der größten Maler aller Zeiten.

Jetzt aber zu den Spielfilmen. Zunächst frage ich mich jedes Jahr aufs Neue, nach welchen Kriterien eigentlich der jeweilige Eröffnungsfilm ausgesucht wird? Soll es möglichst bunte Bilder geben, ein Film für alle oder soll der Streifen zeigen, was heutzutage alles geht in der Filmproduktion? Diesen Eindruck hinterlässt für mich der diesjährige Eröffnungsfilm der „skandinavischen Coen-Brüder“ Mans Marlind und Björn Stein: „Feuer und Flamme“.

Der schwedische Streifen kann sich nicht so recht entscheiden, ob er Komödie, Liebes- oder Märchenfilm, mystisch oder politisch gemeint ist. In quietschbunten Bildern und mit viel Getöse wird die an Romeo und Julia angelegte Liebesgeschichte von John und Ninni erzählt, die aus gegnerischen Familien zweier Vergnügungsparks aus Stockholm in den 1940er Jahren stammen. Da werden Feindschaften ausgetragen, gezündelt und getanzt. Mal versinkt die Ninni im Boden, dann wird der Regenbogen vom schwulen Bruder in luftigen Höhen überquert – Kitsch pur. Dazu trällert das Orchester Bon Jovi im Nachtclub und es wird politisch unkorrekt gequalmt ohne Ende. Gab es 1940 schon Rockmusik? Dann noch ein bisschen Nazi-Geplänkel und viel blumenreiches Getändel, bis sich am Ende alle lieb haben, welch Schmarrn!

Dann wurde es aber deutlich besser. Der dänische Film „Herzdame“ von der Regisseurin May el-Toukhy fasziniert durch eine dramatische Geschichte, eine herausragende Hauptdarstellerin Trine Dyrholm, die seit Jahren viel mehr künstlerische Anerkennung verdient hätte und durch filmische Glaubhaftigkeit und Authentizität der Ereignisse, die jeden Zuschauer in den Bann ziehen muss. Es geht um eine gut situierte Familie. Sie besteht aus einer engagierten Anwaltsmutter, die sich für die Rechte missbrauchter Frauen und Mädchen einsetzt, einem liebevollen Ehemann und zwei reizenden Töchtern.

Dann wird der 17jährige Sohn Gustav des Vaters aus erster Ehe zwangsweise in die harmonische Familie gepflanzt und bringt das perfekte Glück durcheinander. In äußerst expliziten Sexszenen verführt Trini Dyrholm den attraktiven Jüngling. Die Situation eskaliert und verschiebt die Perspektive von Liebe und Glück zu Lügen, Intrigen, Schuld und Tod. Der Sündenfall der Mutter, den sie knallhart leugnet und auf den Jungen abschiebt, macht aus einer leidenschaftlichen Affäre eine katastrophale Desorientierung für den Jugendlichen, aus der er nicht mehr herausfindet. Ein existentielles Drama mit glaubhaften Darstellern, der sich langsam, aber stetig dem Abgrund nähert. Für mich ein eindeutiger Favorit für die Filmpreise.

Mein zweiter Filmpreisfavorit stammt aus Norwegen, dem diesjährigen Gastland der Filmtage. Der großartige Regisseur Hans Petter Moland, der schon so wunderbare Filme wie „Aberdeen“, „Ein Mann von Welt“ oder „Einer nach dem anderen“ in Lübeck aufgeführt und auch Preise gewonnen hat, zeigt diesmal seinen neuen Streifen „Pferde stehlen“ mit den skandinavischen Filmstars Stellan Skarsgard, Tobias Santelmann und Jon Ranes in den Hauptrollen. Er erzählt die preisgekrönte Literaturverfilmung eines Romans von Per Petterson, der bei der letzten Berlinale 2019 mit dem Silbernen Bären für den Kameramann Rasmus Videbaek für herausragende künstlerische Leistung ausgezeichnet wurde. Im Jahre 1999 erinnert sich der alte Mann (Skarsgard) an seine Jugendjahre als 15jähriger Tront in der wilden Grenzregion zwischen Schweden und Norwegen im Jahre 1948. Es geht um Schicksalsschläge, Traumata und die erste Liebe des Jungen, der bei seinem Vater (Santelmann) den Sommer verbringt. In ergreifender Natur wird eine bewegende Geschichte erzählt, die emotional packt und schmerzhaft die Entwicklungsgeschichte eines Jugendlichen beleuchtet, die Jahre später noch nachwirkt. Die Kombination aus grandiosen Naturbildern und einer tragischen Geschichte wird authentisch und schmerzhaft inszeniert, scheut gleichzeitig aber auch politischen Anspruch nicht und entlässt den Zuschauer voller Gedanken und Nachdenklichkeit. Ein wunderbarer Film mit exzellenten Bildern und glaubhaften Darstellern der Extraklasse.



Ein Favorit für den Publikumspreis dürfte der leichte, luftige Wohlfühl-Film von Mika Kaurismäki: „Meister Cheng“ sein. Darin gerät der chinesische Meisterkoch Cheng nach Pohjanjoki im nordfinnischen Nirgendwo. Gemeinsam mit seinem kleinen Sohn ist er auf der Suche nach einem Finnen, der ihm nach dem Tod seiner Frau bei einem Fahrrad-Unfall in Shanghai durch finanzielle Unterstützung aus der Depression geholfen hat. Er trifft auf Sirkka, eine Imbissbuden-Betreiberin, deren Küche er mit superber chinesischer Küche zu neuen Erfolgen verhilft. Es geht viel um leckeres Essen, das Kranke heilt, die Liebe entfacht und alle glücklich macht. Dabei sind skurrile Typen, die man aus finnischen Filmen so liebt, natürlich muss Cheng die Sauna kennenlernen und Tango tanzen, bis alles in einem wunderbaren Happy End endet. Schöne Bilder, eine leichte Story, super Essensbilder, selbst der einsame, Handy-verrückte Sohn findet Freunde und alles wird gut. Ein schöner Familienfilm voller Humor und großer Liebe trotz Schmerz und Fremdheit. Bestes Integrationskino im fernen Lappland – schön!

Auch für Freude von Spannung und Realität gibt es dementsprechende Filme. Im dänischen Streifen „Sons of Denmark“, einem Erstlingswerk von Ulaa Salim, einem irakisch-stämmigen Dänen geht es um Rechtsradikalismus im Jahre 2025. Terrorismus, Nazigewalt gegen Ausländer und der Widerstand dagegen sind das Thema dieses Filmes, der eine radikale Sprache spricht und nicht besonders weit von der heutigen Realität entfernt ist. Ein provokanter Politthriller, dessen Spannung stetig steigt und kaum Auswege möglich macht.



Erwähnen möchte ich auch noch den Film „Kongo“vom Norweger Marius Holst, der nach wahren Begebenheiten gefilmt wurde. Es geht um zwei norwegische Abenteurer, die es als Söldner in den Kongo verschlagen hat, wo sie im Auftrag eines exilierten kongolesischen Politikers zwischen die Fronten geraten. Bei der nächtlichen Fahrt durch den Urwald geraten sie in einen Hinterhalt, der Fahrer ihres Wagens wird erschossen und die beiden landen wegen Mordes im Knast.

Dort ist das Überleben schwierig und die Aussicht auf Freiheit so gut wie ausgeschlossen. Als dann auch noch einer der beiden erkrankt (wieder Tobias Santelmann) und langsam verrückt wird und sich schlussendlich umbringt, wird die Dramatik der Geschichte förmlich fassbar. Der zweite Hauptdarsteller Aksel Hennie schlägt sich irgendwie durch, zwischen gefährlichem Knastalltag und Gerichtsverfahren typisch afrikanischer Art. Ein hartes Porträt zweier skrupelloser Söldner, die man aus dem friedfertigem Norwegen nicht vermutet hätte.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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