Foto: (c) Rahi Rezvani

Damien Jalet & Kohei Nawa präsentieren "Mirage" auf Kampnagel
Eine magische Tanzshow, die begeistert und sprachlos macht

Es ist das vierte Kapitel der Zusammenarbeit des französisch-belgischen Choreografen Damien Jalet und des japanischen visuellen Künstlers Kohei Nawa in einer kontinuierlichen Tanzreihe: 2016 Vessel, 2021 Mist und 2023 Planet, das auch auf Kampnagel zu sehen war. Dabei ist Mirage die erste Arbeit von Jalet für das Ballett des Grand Théâtre de Genève, wo er als assoziierter Künstler unter dem Ballett-Direktor Sidi Larbi Cherkaoui arbeitet.

Als sich der schwere schwarze Vorhang öffnet, wird eine hohe, sich zum Publikum neigende Bühne sichtbar. Diffuses orangefarbenes Licht beginnt zu leuchten zu den impulshaften elektronischen Klängen von Thomas Bangalter, den man als Teil des Elektro-Duos Daft Punk kennt. Schemenhaft steigen dunkle Gestalten aus dem Nichts an die Oberfläche und schreiten langsam aus der Höhe herab bis an den flachen Rand der Bühne vor das Publikum. Langsam wird deutlich, dass die Bühne wie eine sich nach hinten erhebende und sich brechende Welle daher kommt. Wie in Zeitlupe tastet sich das Tanz-Ensemble aus insgesamt 16 Tänzern und Tänzerinnen über die schiefe Ebene herab zu den Menschen. Mit dieser fast schon meditativen Eröffnung beginnt das Stück, das sich auf Themen wie Trugbilder, Fata Morgana, Lichtspiegelungen und Illusionen bezieht. Das Stück lebt von dem Bühnenbild, das der japanische Bildhauer und Skulpturenkünstler Nawa geschaffen hat, sowie der konzentrierten elektronischen Musik von Thomas Bangalter und dem Licht-Design Yukiko Yoshimotos, an derem Beginn eine Art Sonnenaufgang steht.

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Das gesamte 60-minütige Stück unterteilt sich in verschiedene große Abschnitte. Es beginnt mit einer Gruppenkomposition, in der alle Tänzer*innen sich in einem Kreis sitzend zu einem amorphen Gebilde entwickeln, indem sich alle berühren und kreisförmige Bewegungen der Arme und Hände vollführen. Die menschliche Skulptur verschlingt sich zu einer Seeanemone, deren vielarmigen Tentakeln sich ineinander verkeilen, aber auch wieder voller Präzision und Konzentration entblättern. Großartige Bilder entstehen, die staunend und knisternd vor Stille vom Publikum atemlos besichtigt werden. Zu den stampfenden Klängen erscheint plötzlich Bühnennebel, der sich wie eine Schneelawine über die Bühne ergießt und das scheinbar atmende Menschenknäuel verschluckt. Langsam kämpfend arbeitet sich ein einzelner Tänzer gegen den Strom aus Nebel die Bühnenwelle hinauf. Magische Licht-Installationen zeigen auf der Höhe der Bühne Silhouetten-artige Gestalten im Gegenlicht, die sich verrenkend bewegen.

Verteilt über die Bühnenbreite leuchten fünf weitere Gestalten auf, keine davon ist real, es sind Projektionen, Zeichen aus fernen Welten. Dann plötzlich beginnt ein Glitzerregen, der auf eine sich am Boden windende Person hernieder geht. Wie eine Schlange sich windend und mit sich räkelnden Bewegungen unter dem Strahl aus Flüssigkeit und vielfarbigen Glitter, bedeckt sich der Körper der ersten Tänzerin mit Sternenstaub. Es kommen weitere Tänzer*innen dazu, die sich langsam in gold, silber, blau und grün gefärbte Körper-Skulpturen verwandeln. In atemberaubenden Verrenkungen bilden die Tänzer*innen menschliche Figurenhaufen aus zwei und drei Menschen, die sich irgendwann in ein großes Knäuel aus Armen und Beinen verknoten.

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Aus derem Zentrum löst sich eine weibliche Person und bleibt als einziger Mensch mit weit gespreizten Beinen sitzen, während ein weiterer Wasserschwall mit Stereoskop-Licht-Gewitter auf sie niedergeht. Diesmal laut plätschernd, wie dicke Regentropfen, die auf harten Boden fallen. Die geschmeidige Tänzerin verharrt zunächst, um dann mit biegsamen Armen und kreisenden Oberkörperbewegungen an eine indische Tempeltänzerin zu gemahnen. Dann folgen wiederum wie aus dem nichts von oben die anderen glänzenden Gestalten. Gleitend und in Sitzposition bewegen sie sich wie ein Lindwurm durch den Nebel hinab zur sich biegenden Kollegin. Zusammen bilden sie dann in Reihe eine Formation, die wie ein riesiger Tausendfüssler wirkt, der sich in immer neuen wellenförmigen Bewegungsformationen windet und glitzert, bis endlich das Licht gedämmt wird und die Musik in wenigen sanften Schlägen ausklingt.

Während sich der schwere Vorhang schließt, löst sich ganz langsam die begeisterte Erstarrung des Publikums. Als dann die glitzernden Tänzer*innen, jetzt mit leichten Jacken über der fast gänzlichen Nacktheit wieder auf der Bühne erscheinen, bricht sich ein Jubelsturm aus Fußgetrampel und stehenden Ovationen Bahn. Minutenlang wird das großartige Tanzensemble und alle Mitwirkenden an diesem absolut einzigartigem Tanzereignis abgefeiert - und das mit Recht. Denn obwohl das Stück sehr langsam und etwas meditativ beginnt, entwickelt sich die Show zu einem Fest für alle Sinne. Die wunderbare Kombination aus Musik, Licht, Bühne und vor allem dem hervorragendem Ensemble besticht als Bewegungs- und Bilderrausch, der weniger Tanz als skulpturale Menschenbilder darstellt.

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Getragen wird die gesamte Choreografie von einer außerordentlichen Leistung des gesamten Ensembles, voller Körperbeherrschung, Konzentration, Geschmeidigkeit und Lust und Freude an der Bewegung. Ein Abend der alle Besucher*innen gänzlich überzeugte und für drei absolut ausverkaufte Vorstellungen sorgte. Ein Abend, der lange nachwirkte, für interessante Gespräche sorgte und auf Nachfolge-Produktionen hoffen lässt.


Fotos: (c) Rahi Rezvani

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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