Seit vielen Jahren gehört die 1961 in Freiburg geborene Künstlerin Katharina Grosse zu den Weltstars der gegenwärtigen Kunstszene. Mit ihren radikalen, raumgreifenden in-situ-Malereien, die sowohl in Farbigkeit als auch in den Ausmaßen viele Grenzen sprengen, hat sie sich weltweit einen Namen gemacht.
Ihre überwältigenden Farb-Rausch-Installationen wurden unter anderem im New Yorker MoMA, dem Bostoner Museum of Fine Arts, dem Palais de Tokyo in Paris, bei der Biennale in Venedig oder im Hamburger Bahnhof von Berlin gezeigt. Außer in Hamburg zeigt sie gerade Arbeiten aus verschieden Epochen in Stuttgart und wird bis zur Eröffnung der Art Basel im Juni den dortigen Messeplatz in Basel mit ihrer bis dato größten Arbeit verschönern.
In den Hamburger Deichtorhallen ist mit dem sogenannten Wunderbild die größte transportable Malerei mit einer Länge von 60 Metern und einer Höhe von 20 Metern ausgestellt. Dieses raumgreifende Kunstwerk, das Malerei, Skulptur und Architektur miteinander verbindet, war ursprünglich von ihr für den Messepalast der Nationalgalerie in Prag entwickelt worden. Die Arbeit, die aus lose nebeneinander hängenden Stoffbahnen besteht und mit kräftigen Farbexplosionen besprüht ist, wurde für Hamburg als imposante Enfilade über zwei Seiten in der 3.000qm großen Halle neu inszeniert und um eine eigens für die Hamburger Schau entwickelte Soundkomposition von Stefan Schneider (Kreidler) ergänzt.
Foto: (c) Holger Kistenmacher
Auf diese Weise können die Besucher*innen beim Durchschreiten des Bildes ein einzigartiges immersives Farb- und Klangerlebnis erfahren. Dabei stellt das Wunderbild einen Wendepunkt im Werk der Künstlerin Grosse dar. Erstmals hat sie mit Hilfe von Schablonen gearbeitet, die spezielle frei bleibende Weiß-Flächen aussparen, die wie Fenster in imaginäre Räume interpretiert werden können. Das gesamte Bild lässt sich umrunden, wobei selbst die Rückseiten, je nach Lichteinfall viel Platz für eigene Interpretationen bieten, sowie einen lebendigen Reflexionsraum bilden.
Scheint die Sonne durch die lichtdurchflutete Halle, erscheint die gigantische Malerei wie ein Dia mit einer sinnlichen Qualität, das dazu verführt, sich zu wundern, erklärte die Künstlerin im Gespräch mit Deichtorhallen-Chef Dirk Luckow. Dies sei auch der Schlüssel zum Verständnis ihrer Kunst. “Ich reagiere stets auf die handlungsgebende Architektur der Ausstellungsstätte. Ich gehe davon aus, dass es keine Bildgrenzen mehr gibt, deshalb transformiere ich meine Kunst in der Welt bereits seit ich ein Kind war“, erklärte Grosse bei der Pressekonferenz. „Als Kind habe ich immer ein Spiel mit mir selbst gespielt: Ich musste morgens, bevor ich aufstand, mit einem unsichtbaren Pinsel alle Schatten an der Wand, auf der Fensterbank oder der Lampe weg malen. Ich war wie besessen davon. Die Welt zu betrachten ist für mich immer schon damit verbunden gewesen, gleichzeitig etwas in ihr, mit ihr oder auf ihr zu tun“, erzählte Grosse.
„Jeder Ort erzeugt eine eigene Bildsprache, wie auch hier in den Deichtorhallen und bildet eine konspirative Beziehung zwischen Malerei und Architektur. Alles ist Imagination durch die spezielle Lichtsituationen, die die verschiedensten Perspektiven ermöglichen, in dem man durch das Gemälde läuft oder eben drum herum“.
Katharina Grosse, Foto: (c) Holger Kistenmacher
Dabei hat die Künstlerin Katharina Grosse ihre Arbeitsweise über viele Jahre weiter entwickelt. Stets arbeitet sie mit Industriefarben, die sie mit Hilfe eines Kompressors und einer Spritzpistole an einem langen Stab in großen Bögen auf die Leinwand, den Boden, ganze Häuser oder Landschaften malt. Dabei geht ihre Kunst auf die uralte Technik der Malerei aus der Frühzeit der Menschheit zurück. Die Urmalerei der Steinzeitmenschen, die in Höhlen ihre eigenen Hände mit durchgekauter Asche selbst besprühten und so ein Negativ-Bild entstehen ließen, habe sie stark beeinflusst, erklärte sie. Ihre Kunst heute ist eine Aktualisierung dieser Technik, die man fühlen, denken, wahrnehmen und als gemeinschaftliche Erfahrung erleben kann. Aber überraschenderweise nennt die Künstlerin auch die Schweizer Kollegin Pipilotti Rist und auch Mark Rothko, Jackson Pollock oder indigene Künstlerinnen aus Neuseeland zu ihren Inspirationsquellen.
Neben dem riesigen Wunderbild gibt es im hinteren Teil der Deichtorhallen eine speziell für Hamburg konzipierte neue Arbeit. Ein farbgewaltiger Erdhügel aus Kalkgestein hat eine Hügellandschaft geschaffen, die durchlaufen werden kann. Wie immer ist die Arbeit radikal und grenzenlos, sowohl in der Dimension, ihrer Zeitlichkeit als auch in der Materialität, die das Publikum dazu auffordert, den eigenen Blick neu zu justieren - und vertraute Seh- und Denkgewohnheiten zu hinterfragen. Je nach Perspektive oder Lichteinfall glänzt der Erdhügel in schillernden Farben wie von Innen. Umgeben ist die Erdarbeit von sechs großformatigen bis zu 9 Meter breiten Studio Paintings aus den Jahren 2005 bis 2024.
Foto: (c) Holger Kistenmacher
In einem weiteren Raum wird ein etwa 30-minütiges Video von Claudia Müller (Arte) gezeigt, welches die Künstlerin bei der Arbeit im Atelier zeigt, wie sie mit raumgreifenden Schwüngen kunstvolle Kreise und Strukturen schafft. Auf die Frage von Dirk Luckow, ob es denn jemals Möglichkeiten der Korrektur gebe, antwortet die Künstlerin mit einem Lächeln im Gesicht: „Mein Motto ist: Es kann nichts schiefgehen. Alles gilt, was im Moment der kreativen Arbeit entsteht. Der Weg dorthin ist bereits das Bild“.
Katharina Grosse: Wunderbild - 5. Juni bis 14. September 2025, Deichtorhallen Hamburg
Zur Ausstellung entsteht ein Interviewband zwischen Katharina Grosse und dem Autor Klaus Dermutz im Juli 2025, 232 Seiten, 64 Abbildungen, Verkaufspreis: 28 Euro.
Weitere Infos: www.deichtorhallen.de
Fotos: (c) Holger Kistenmacher