Im Hafenschuppen C hat zurzeit der „Fliegende Holländer“ angedockt, in einer freien Adaption von Komponistin Gabriele Pott und Librettistin Birgit Kronshage mit Kindern und Jugendlichen. Friedo Henken spielt den Holländer als von der Welt entfremdeten Rockstar, der sich nach nichts weiter sehnt als einem Leben fernab des Ruhms.
Zu Beginn der Vorstellung sprechen Gabriele Pott sowie Kultursenatorin Monika Frank. Sie zeigen sich erleichtert, dass das Musikfestival Kunst am Kai überhaupt in seine elfte Spielzeit gehen konnte, nachdem die Stadt ihre Förderung verlängert hat. Ihre Freude ist vollkommen berechtigt: Projekte wie dieses, die darum bemüht sind, auch jüngeren Menschen den Zugang zu Oper und klassischer Musik zu ermöglichen, sind unverzichtbarer Bestandteil einer lebendigen städtischen Kulturszene. Ihnen kommt eine zentrale Rolle in der generationenübergreifenden Aufgabe kultureller Vermittlungsarbeit zu.
Jüngere Generationen in die Oper zu locken, ist eine der größeren Herausforderungen für Opernschaffende. Da hilft es sicherlich, wenn der Spielort selbst zur Atmosphäre beiträgt: Im Hafenschuppen wähnt man sich gleich zu Beginn in einem umgekehrten Schiffsrumpf. Ansonsten fordert das reduzierte Bühnenbild das innere Auge des Publikums, was auch anregend wirken kann.
Die musikalische Bearbeitung sitzt. Gabriele Pott ist es gelungen, die klanggewaltige Vorlage auf die Dimensionen eines erweiterten Kammerorchesters zu reduzieren. Entschlossen füllen die Musikerinnen und Musiker der Lübecker Philharmoniker den alten Hafenschuppen mit wagnerischer Dramatik. Die Kinder und Jugendlichen übernehmen alle klassischen Aufgaben eines Opernchores und meistern diese Herausforderung bravourös. Neben den Massenszenen - was wäre ein Rockstar ohne seine Fans - überzeugt vor allem der präzise, klare Chorklang, und das, obwohl die Jugendlichen ihrer Dirigentin zumeist den Rücken zukehren.
Von den Solistinnen und Solisten, die hier in geschütztem Rahmen den Einstieg ins Wagner-Fach wagen, überzeugt allen voran Virginia Ferentschick in der Rolle der Senta. Gegen das eingeschrumpfte Orchester weiß sie sich mühelos durchzusetzen. Auch Robin Frindt singt seinen Daland überzeugend. Die Rolle von Sentas Freundin Mary wird durch eine zusätzliche Arie sinnvoll aufgewertet. Dass diese eigentlich Wagners Wesendonck-Liedern entstammt, bemerkt nur, wer es weiß.
An simple Akkordfolgen gewöhnte Ohren für die Reize hochkomplexer Musik zu sensibilisieren, ist jedoch nur ein Teil jener Aufgabe, der sich Kunst am Kai verschrieben hat. Der andere lautet, aus der Zeit gefallene Handlungen und altertümliche anmutende Texte derart zu bearbeiten, dass die durch sie geschilderten Konflikte auch Jahrhunderte nach ihrer Entstehung ihre Relevanz behalten.
Wagners Holländer, der als Verfluchter nur alle sieben Jahre Land betreten darf, sucht nach Erlösung. Um diese zu erreichen, ist er auf die Hilfe einer Frau angewiesen, die ihm ewige Treue schwört. Aus diesem Grund bemüht er sich bei dem in Seenot geratenen Kapitän Daland um die Hand von dessen Tochter Senta. Daland erkennt in dem augenscheinlich gutbetuchten Holländer eine gute Partie für seine Tochter, diese verzehrt sich mit andauernder Handlung ihrerseits zunehmend nach dem Verfluchten und stürzt sich, als er sie aufgrund des Fluchs verlässt, ihm ewige Treue schwörend in den Tod, wodurch sie ihn erlöst. So einfach, so opernhaft - so unzeitgemäß.
Wie also eine Geschichte, die einer Sage gleicht und zudem auch noch hochsensible Themen wie arrangierte Ehe, toxische Abhängigkeitsverhältnisse und Suizid beinhaltet, angemessen adaptieren, ohne ihren tragischen und moralischen Gehalt zu beschneiden? Birgit Kronshage wählt die Variante eines absoluten zeitlichen Transfers in die Gegenwart. Der Holländer ist ein Rockstar, der, von Fans und Marketingbeauftragten von Auftritt zu Auftritt getrieben, seine Bindung zur Welt und sich selbst verliert. Die von Jugendlichen fantastisch verkörperte Produktionscrew des Stars erinnert an die grauen Herren von Momo, die ihm seine Zeit und seine Freiheit klauen. Senta tritt mit ihm über ein Online-Forum für einsame Seelen in Kontakt und ist fortan von dem Gedanken beseelt, ihm beizustehen.
Die Metapher ist groß und dementsprechend umfassend die Bearbeitung. Um die Kluft zwischen altem Text und neuer Geschichte zu überbrücken, hat Birgit Kronshage nicht nur notwendige Dialoge verfasst, sondern wagt sich mit Texten wie „Scroll, kleiner Cursor“ anstelle des originalen „Summ und brumm, du gutes Rädchen“ auch an die lyrische Bearbeitung. Die hinzugeschriebenen Texte allerdings stehen dann doch in unangenehm harschem Kontrast zu beibehaltenen Versen des Originals - so zum Beispiel, wenn der Vater dem Holländer seine Tochter anpreist mit den auch inhaltlich aus der Zeit gefallenen Worten: „Nicht wahr, sie ziehret ihr Geschlecht.“
Zwar gelingt der Transfer insofern, als die Grundproblematik des Stoffes erhalten bleibt, allerdings fehlt dieser in einem von der Oberflächlichkeit sozialer Netzwerke geprägten Setting die tragische Tiefe. Die schaurige Getriebenheit der Hauptperson weicht einer hektischen Verzweiflung. Das für die Atmosphäre des Originals unentbehrliche Duell der Matrosenchöre entfällt, auch in Ermangelung ebensolcher Chöre, komplett. Dass teilweise TikTok-Tänze als Grundlage für zwischenzeitlichen Choreographien des Jugendchores dienen, ist amüsant, jedoch nicht in die Handlung eingebunden. Muss unbedingt Social-Media zum Thema gemacht werden, um einen Stoff in unsere Zeit zu transportieren? Wenn Jugendliche aber auf diese Weise Zugang zu Opernstoffen finden, kann es ein legitimes Mittel sein. In einer guten Bearbeitung bleiben die Dramen dieselben, ob nun mit oder ohne Handys auf der Bühne.
Senta stürzt sich an diesem Abend nicht für ihren Schwarm in den Tod - damit steht sie in der Tradition großer zeitgenössischer Inszenierungen wie der aktuellen in Bayreuth, zu deren Schluss Mary den Holländer gar erschießt. Im Hafenschuppen verneint Senta den Sprung im letzten Moment und steigt vom Turm hinab - allein, aber lebend. Alles andere wäre mit Blick auf den Jugendfokus auch kaum vertretbar gewesen. Wie sie allerdings zu dieser hochgradig antiklimaktischen Entscheidung gelangt, nachdem sie dem verzweifelten Holländer bereits völlig kopflos auf den Turm gefolgt ist, bleibt ihr Geheimnis. Dementsprechend werden auch die aufgeworfenen Probleme - die Suizid-Thematik sowie die Konsequenzen aus Vereinsamung und Ruhmeslast in einer digitalen Welt - nicht weiter problematisiert. Hier hätte noch Potential bestanden.
Die Jugendoper „Der Fliegende Holländer“ im Rahmen von Kunst am Kai schenkt Jugendlichen die Gelegenheit, an einer Opernproduktion mitzuwirken und über ihnen bekannte Themen Zugang zu Musik und Drama zu finden. Dies ist eine großartige Initiative, die es zu erhalten gilt. Möglicherweise wäre eine jugendorientierte Bearbeitung im Falle des „Fliegenden Holländers“ aber auch bei weniger sprachlichen und inhaltlichen Kompromisse möglich gewesen: Die Vorlage der Bearbeitungsidee konsequent anzupassen und nötigenfalls zu kürzen, den Rest aber der Jugend auch zuzumuten und dem Original in seiner dramatischen Anlage zu vertrauen. Davon würde nicht zuletzt die Klarheit gerade einer solch mutigen Bearbeitung profitieren. Und im Zweifel bringt Wagners Musik doch das meiste zusammen.
Die beiden letzten Aufführungen werden am Samstag, 7. und am Sonntag, 8. September 2024 jeweils um 17 Uhr im Hafenschuppen gezeigt.
Infos und Tickets unter www.kunst-am-kai.de
Fotos: (c) Christoffer Greiß