Junge Tanz-Company Johannes Kritzinger

Eröffnungskonzert "Kunst am Kai" mit Gustav Holst "Die Planeten"
Open season, open culture

Das Holst'sche Hauptwerk im Hafenschuppen C: Mehr als begrüßenswert, die Spielzeit 2018 der "Kunst am Kai" mit den hierzulande zu selten aufgeführten „Planeten“ zu beginnen.

„Kunst am Kai“ im fünften Jahr. Der Hafenschuppen C ist voll, und das Mikro ist kaputt. „Dann spreche ich so!“, sagt Gabriele Pott, Gründerin und künstlerische Gesamtleiterin des Kulturprojekts auf der Nördlichen Wallhalbinsel, und gibt ihrer Verblüffung über den nachhaltigen Erfolg Ausdruck: „Damit hätte damals, als wir anfingen, niemand von uns gerechnet.“

Blechbläserquintett Modern BrassBlechbläserquintett Modern Brass

Kultursenatorin Weiher sagt Grußworte, und das Konzert beginnt wie im Kino – mit der Titelmusik-Fanfare der "Star Wars"-Filmreihe, gespielt vom Bläserquintett Modern Brass (zwei Trompeten, Horn, Tuba, Euphonium/Posaune); komponiert von John Williams und substanziell bei Holst akquiriert. Clever. Macht Spaß. Aha. Man ist im Geschehen. Die Modern Brass fährt fort mit der „Pantomime für Euphonium und Blechbläser“ von Philip Sparke, einem schräg-heiteren Uptempo-Stück mit hohem Anspruch, vor allem an den Euphonium-Spieler Joachim Preu, der seinem schwer zu intonierenden Instrument endlose Kaskaden von 16tel-Noten abringt. Nur scheinbar mühelos.

Dann Holger Roese, Schlagzeug-Student an der MHL, mit dem Trommelsolo „Rebonds B“ von Jannis Xenakis. Bongos, Conga, große Trommel, ein hartes Xylophon – Kraft, Subtilität (unterschiedliche Trommeln reagieren unterschiedlich auf Schlag und Stock), Fluss und diese gewisse Selbstverständlichkeit im Tun, die ein naturgeborener Spieler mitunter ausstrahlt. Beifall, Rufe. Klasse.

Instrumentalsolist Holger RoeseInstrumentalsolist Holger Roese

Der Chor der Singeleiter (mit Lübecker Musikstudenten) folgt mit einem Lied des norwegischen Komponisten Ola Gjeilo an die „Northern Lights“, gewagt und weit weg von esoterischen Untiefen. Leonard Bernsteins Ouvertüre zu „Candide“, dem meist gespielten Konzertwerk des Dirigenten-Komponisten, hinterlässt einen gelöst und, ja – irgendwie optimistisch.{banner_here}

Indessen hat mit 23 jungen und ganz jungen Frauen sowie 2 Mädchen und 2 reifen Menschen die Junge Tanz-Company Johannes Kritzinger den vorderen Teil der ebenerdigen Bühne eingenommen. Seit Langem in Lübeck aktiv, hat der frühere John-Cranko-Schüler und Neumeier-Tänzer mit seiner Frau Caroline Maylin-Kritzinger eine Choreografie für die junge Truppe über den Weg des Menschen von der Geburt bis zum Tod generiert – Entwicklungen, Beziehungen, Existenz an sich.

Das Paar arbeitet stark per Atmosphäre, sucht nach Bildern und macht Suche sichtbar. Kontemplative Stimmung, Hadern mit der Physis, Klaviermusik von Erik Satie. Langsam entsteht Bewegung. Unaufgesetzt, klischeearm, humanoid. Wenn zu Philipp Glass' Komposition „Mad Rush“ die jungen Frauen in Alltagsgeschwindigkeit lose einen Kreis formen, den die Kritzingers als Paar in extremer Zeitlupe durchqueren, wird das Phänomen Zeit relativiert. Ein ausbalanciert realisiertes choreografisches Konzept. Organisch.

Junge Tanz-Company Johannes KritzingerJunge Tanz-Company Johannes Kritzinger

Dass die Tänzer im zweiten Teil des Abends phasenweise dennoch störend wirkten, lag nicht an ihrer Performance. (Und Blümchen im Takt von lächelnden Händen … na ja.) Der Mensch als zuerst visuell wahrnehmendes Wesen drängt die auditive Wahrnehmung unwillkürlich in die zweite Reihe der Rezeption, sobald etwas zu sehen ist, das sich rührt. Auch etwas so Kraftvolles und Außergewöhnliches wie „Die Planeten“ in einer besonderen Instrumentierung von einem hochwertigen Ensemble, das im mittleren Raumteil agiert. Phasenweise dezimiertes Erleben einer Musik, die definitiv keine optischen Zusätze benötigt und ohnehin nicht als Ballettmusik konzipiert war. Etwas weniger wäre hier ein bisschen mehr gewesen.

Moderner Klassiker: Gustav Holst (1874-1934), Musiklehrer an einer Mädchenschule in London, ließ sich in die Astrologie einführen und entwarf eine Orchestersuite in sieben Sätzen, geordnet im Wesentlichen nach der Reihenfolge der Planeten im Sonnensystem. Lediglich Merkur und Mars sind vertauscht, was dynamisch-dramatische Gründe nahelegt, sobald das Allegro dieses 1. Satzes mit gebieterisch flimmernder Härte nach vorn geht, den Körper packt und den Maschinenkrieg orakelt, der als düstere Gewissheit vor der Tür stand, als Holst 1913 mit der Komposition der Orchestersuite beschäftigt war: „Mars, The Bringer Of War.“

Junge Tanz-Company Johannes KritzingerJunge Tanz-Company Johannes KritzingerNach der Uraufführung 1920 in Birmingham/UK in einer Fassung für lediglich zwei Klaviere und eine Orgel, ist „Die Planeten“ in seiner furchtlosen, dem Ausdruck verpflichteten Instrumentierung im großen Sinfonieorchester bekannt geworden, wie Holst sie konzipiert hatte. Gabriele Pott und das exzellente Ensemble positionierten sich mit zwei Klavieren, Flöte, Harfe, dem 6-köpfigen Bläserquartett Modern Brass, zwei Schlagwerken und Chor genau dazwischen: transparent, wesentlich, deutlich akzentuiert, konsequent. Nicht zuletzt wurde deutlich, dass die Ausdrucksstärke der „Planeten“ zuerst und vor allem in der reinen Komposition steckt, die von der Akzentuierung und Durchschlagskraft eines großen Orchesters profitiert, sie aber nicht existenziell braucht. Holst wusste sehr genau, worum es ihm ging und wie er es sagen wollte.

Holst schrieb 7 Sätze, die er mit den bekannten Charakterismen der jeweils namensgebenden römischen Gottheit verband: Mars steht für Willensstärke, Venus für Affekt und Emotion, Merkur für den Verstand, Jupiter für Lebenskraft und Großherzigkeit, Saturn die Fähigkeit zum „langsamen, doch stetigen Fortkommen im Leben“ (Holst), Uranus für das Metaphysische und Neptun für psychische und metaphysische Erfahrungen. Frühe Programmmusik, spätromantisch und bis heute futuristisch/utopisch anmutend. Einflüsse von Zeitgenossen wie Strawinsky und Schönberg sind belegt, Grieg irrlichtert durch die atmosphärischen Subtexte des britischen Composers mit schwedischen Wurzeln.

Saskia Schmidt-EndersSaskia Schmidt-EndersDas dynamische Spektrum der „Planeten“ ist breit, tief und hoch, vom quasi-gewalttätigen „Mars“ über den verspielten „Mercury“ und das Tastende, Suchende des „Saturn – The Bringer Of Old Age“ bis zum beeindruckenden, sphärischen 7. Satz „Neptun – Thy Mystic“ (sic!): schwebende, sacht fluktuierende Texturen, reiner Klang. Dimensionen verpuffen, Materie scheint zweifelhaft, Masse ist Einhandklatschen. Physisch, neural, always real. Ein sechsstimmiger Frauenchorsatz greift Raum und Zeit irgendwo da draußen. Metaphysische Klangkunst, wie sie in verschiedensten kulturellen Auffassungen und spirituellen (Irr-)Relevanzen aller Zeiten entstanden ist und entsteht. Zeit und Struktur scheinen obskur, Tonalität nurmehr ein Kann, die Ansprüche und Möglichkeiten an und für den Kompositeur sind divers. Wagner, Mahler, Messiaen, Björk, Brian Eno, Aphex Twin, Gregorianische Mönchsgesänge aus dem Mittelalter, Ambient music u. a.. Holst-Musiken passen in diese Reihe.

Seine Auffassungen von laut und leise, Punkt und Fläche sind heute alltagsgegenwärtig. „Die Planeten“ mit den monumentalen wie filigranen Klangeffekten und -farben nimmt breitwandige Blockbuster-Soundtracks der Gegenwart vorweg und ist konkret Teil davon: in Elliot Goldenthals Filmmusik zu „Batman Forever“ und Hans Zimmers „Gladiator“, im Isengard-Thema beim „Der Herr der Ringe“ von Howard Shore, im Tatort (Folge: „Im Schmerz geboren“) und in Computerspielen wie Outpost, Zak McKracken u. a.

Junge Tanz-Company Johannes KritzingerJunge Tanz-Company Johannes Kritzinger

Frank Zappa zitiert den „Jupiter“-Satz auf seinem Album „Absolutely Free“ (1967), so auch die britische Progressive-Rock-Band Yes (Album: „Time and a Word“, 1970). King Crimson, quasi Schöpfer des Progressive-Genres, gaben bei ihren Live-Auftritten 1969 gleich den kompletten „Mars“ in vereinfachtem Arrangement – zu fünft! Die slowenische Avantgarde-Band Laibach zitiert „Mars“. Und als eines Tages 1970 der Bassgitarrist einer kleinen unbekannten Rockband aus Birmingham/UK im Proberaum langsam das „Mars“-Hauptthema anspielt und die Band einsteigt, ist der Heavy Metal geboren: „Black Sabbath“ heißt das Stück, ebenso die Band, die es aus der kurzen Tonfolge entwickelt hatte und zu den größten und einflussreichsten Rockbands der Geschichte werden sollte.

Fazit: Guter Abend, mehr so was. Sollten „Die Planeten“ bei „Kunst am Kai“ eine Richtung vorgegeben haben, würden Strawinsky, Bartók, Stockhausen (!) folgen, wäre das eine außerordentliche Belebung des Konzertalltags in Lübeck. Gerade und vor allem in einer Location wie dem Hafenschuppen C: Open season, open culture. Hier hat niemand Schwellenangst.

Infos zum Musikfestival: www.kunst-am-kai.de

Rolf Jäger
Rolf Jäger
Geb. 1958, freischaffender Teilzeit-Journalist im Großraum Kultur - Musik, Film, bildende Künste, Literatur. Professioneller Musikjournalist 1996-2006 (Intro, Jazzthetik, Rolling Stone, LN, Badische Zeitung u. noch paar a.m.), Kulturschaffender bei www.wolkenkuckucksheim.tv, Gitarrist seit kurz nach Konfirmation.

Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.