4 Stunden sind eine lange Zeit für eine dramatische Handlung. Bisweilen grenzwertig lang: Man denke nur an Wagners „Lohengrin“ oder den Zack-Snyder-Cut von DCs Justice League. Die diesjährige Revue an der Musikhochschule Lübeck jedoch beanspruchte jede einzelne Minute mit Recht.
Aus den Niederungen der Pandemie und ihrer Nachwirkungen erhebt sich auf der Bühne des großen Saales ein Epos, das in der Revue-Geschichte seinesgleichen sucht - und dies in jeder Dimension. Waren die Ausgaben der letzten Jahre zwar mit Blick auf musikalische Qualität und Stimmungsanspruch auf ungebrochen hohem Niveau gewesen, so schien doch die glamouröse Selbstverständlichkeit zu fehlen, mit der die Beteiligten auf der Bühne interagierten - wodurch beispielsweise die Michael-Jackson-Revue 2019 das Publikum in einer Zeit begeisterte, als das Vermächtnis des King of Pop gerade starke Schlagseite erlitten hatte. Vielleicht haben die Jahrgänge, die ihr Studium in Zeiten der Kontaktbeschränkungen und nur zur Hälfte besetzter Zuschauersäle aufnahmen, eine längere Anlaufzeit benötigt, um die feine Balance zwischen individueller Bühnenpräsenz, Choreographie und Publikumsinteraktion zu verinnerlichen - in diesem Jahr haben sie die Herausforderung mit Bravour gemeistert. Die Zeit heilt doch, so scheint es, alle Wunden.
Doch die diesjährige Revue kommt nicht nur an das Niveau vergangener Jahre heran: Die Märchen-Revue 2024 ist die vielleicht beste überhaupt, weil in jeder Hinsicht vollkommen. Die Grenze zum ernstzunehmenden Musical wird mit dieser Darbietung überschritten - denn sie geht über den Anspruch hinaus, popmusikalische Gourmet-Häppchen in einen simplen dramatischen Rahmen zu betten. In diesem Jahr dienen die adaptierten Songs einer Handlung, anstatt umgekehrt - und fügen sich deshalb umso harmonischer in den atmosphärischen Rahmen.
So zu erleben, wenn die junge böse Hexe (Friederike Künne) Hänsel und Gretel (Franziska Gottwald, Fiona Kuchinke) mit Hilfe von Screamin‘ Jay Hawkins‘ „I Put A Spell On You“ auf ungekannt laszive Weise in ihr Häuschen lockt. Mit dem fanatischen Dr. Arnold Rutherford - ein Teil autokratischer Diktator, zwei Teile wahnsinniger Wissenschaftler - gibt es einen echten, bösen, unsympathischen, furchteinflößenden Antagonisten - ein greifbares Übel, das anderen Ausgaben gefehlt hat, in denen die Protagonistinnen und Protagonisten meist entweder mit sich selbst oder dem abstrakten Übel der Welt zu kämpfen hatten.
Das Oberthema ‚Märchen‘ zeitgemäß zu adaptieren, ist in sich schon eine Herausforderung, sollen doch festgefahrene Rollenbilder und Klischees, ohne die kaum ein Märchen auskommt, nach Möglichkeit nicht reproduziert werden. Auch hier haben die Storyliner des Produktionsteams* ganze Arbeit geleistet. Sie bedienen sich einer doppelten Rahmenhandlung, innerhalb derer die Geschwister Grimm, die in einer durch den besagten Dr. Rutherford jeglicher Farbe beraubten Welt nach Inspiration für ihre Geschichten suchen, dabei auf die Hauptfiguren allseits bekannter Erzählungen wie Rotkäppchen, Sterntaler oder Rumpelstilzchen treffen - und mit denen sie sich gegen den Bösewicht verbünden.
Der geniale Kniff an der Sache ist, dass Handlung und Rollen auf diese Weise von den engen Fesseln der Tradition befreit werden. Zentrale Märchenmotive und -charaktere finden sich in einer Story vereint, die mehr kann, als eine ‚Moral von der Geschicht‘ zu predigen. Die Stränge der klassischen Erzählungen des hiesigen Kulturraumes werden gekonnt zu etwas Neuem, Übergeordnetem verwoben, etablierte Klischees treffsicher, aber ohne erhobenen Zeigefinger enttarnt und Altbackenes auf den aktuellen Stand der Unterhaltung gebracht. Bestes Beispiel ist das Aufeinandertreffen des korblosen Rotkäppchens mit dem verliebt-verzweifelten, gar nicht bösen Wolf, der ihr in herzergreifender Verehrung eine Rap-Hymne widmet - und von ihr doch nur einen Korb kassiert.
Doch selbst das ausbalancierte Zusammenspiel von Handlung und musikalischer Darbietung hätte nur den halben Effekt ohne die fantastische Arbeit an Maske und Kostümen (Lisa Scheffler, Anja Liedtke, Ronja-Marei Kluge) und schauspielerischer Darbietung (Leitung: Hartmut Uhlemann), die bisweilen beachtliche Höhen erreicht. Selten vorhandene Längen in den Dialogen scheinen dringend notwendig, um den Darstellenden ausreichend Zeit zu verschaffen, sich aus ihren Kostümen hinaus- und in das nächste hineinzuwinden. Dabei fällt die beinahe vollständige Abwesenheit eines Bühnenbildes nicht auf und auch die auf der Bühne befindlichen Musikerinnen und Musiker werden problemlos umspielt.
Eine solche Art der Adaption erfordert Mut und vor allem: Selbstbewusstsein, woran es den Studierenden in keiner Sekunde zu mangeln scheint. Die Gefahr, in den Klamauk abzudriften, lauert dabei hinter jeder dramaturgischen Ecke, wird aber durch fulminante musikalische Performances samt einfallsreicher Choreographien (Leitung: Ulla Benninghoven) regelmäßig wieder vertrieben. Und wenn das Chaos einmal Überhand nimmt, sorgt der ordnungsliebende und fantasieverachtende Dr. Rutherford dafür, dass die gute Stimmung unvermittelt in bedrückendes Grauen umschlägt. Das Bild des fortschreitenden Graus, das alle Farben verdrängt, erinnert an das sich ausbreitende Nichts in Michael Endes unendlicher Geschichte. Es bietet in Zeiten von Krieg und Rechtspopulismus diverse Interpretationsmöglichkeiten und doch haben die Macherinnen und Macher der Versuchung widerstanden, eine davon hervorzuheben. Auf diese Weise regt die Märchen-Revue weit über ihren inhaltlichen Rahmen hinaus zum Nachdenken an.
Die Arbeit, die im Pop-Bereich an der MHL unter der Leitung von Bernd Ruf gemacht wird, bewegt das Publikum - vor allem aber bewegt sie die Kunstschaffenden selbst, das wird an diesem Abend wieder deutlich. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass hier keine Spezialisten auf der Bühne stehen. Die Studieninhalte im Studiengang ‚Musik vermitteln‘, den die meisten Beteiligten studieren, sind breit gefächert, da auf eine musikpädagogische Ausbildung ausgelegt. Vielleicht liegt gerade darin aber auch das Geheimnis einer solchen auf allen Ebenen überzeugenden Inszenierung.
Wenn aus den Protagonistinnen und Protagonisten dieses Abends die Musik-, Theater-, Tanzlehrer der Zukunft werden, dann besteht zumindest in diesem Bereich der Bildung keinerlei Grund zur Sorge.
*Das Produktionsteam der diesjährigen ‚Märchen‘-Revue: Antonia Eder, Kjell Kitzing, Leah Klussmann, Malte Langenbeck, Tillmann Lüken, Konstanze Peters, Lisa Scheffler, Onno Spuhl, Andrea Weigand
Fotos: (c) Maximilian Busch