Bei wunderbarstem Sommerwetter konnte Festivalleiter Hans-Wilhelm Hagen das Publikum in der neuen Location Juniper, der ehemaligen LN-Kantine in Buntekuh begrüßen. Erstmalig fand die Eröffnungsveranstaltung des Crossover-Festivals nicht im Atlantic-Hotel Travemünde statt, sondern auf der gegenüber liegenden Seite von Lübeck.
„Trotzdem wolle man am Thema des diesjährigen Festivals festhalten“, betonte Hagen. Vielleicht müsse es jetzt heißen: von München nach Lübeck und von New York nach Travemünde und wieder zurück. Tatsächlich ist der heutige Gast, das „Munich Composer Collectiv“ in München zuhause, aber deren Leiter Gregor Hübner, der dort als Professor an der Musikhochschule lehrt, lebt und arbeitet die Hälfte des Jahres in New York. Als musikalischer Weltenbummler, Violinist und Komponist ist er zwar der Frontmann und Ansager der bunten Truppe, gleichzeitig aber nur Einer unter Gleichen.
Denn das Musiker- und Komponisten-Kollektiv versammelt insgesamt 18 Musiker und Musikerinnen, die gleichzeitig aber auch für einzelne Kompositionen verantwortlich sind. So ist zum Beispiel die gerade mit dem Deutschen Jazzpreis ausgezeichnete Sängerin und Komponistin Monika Roscher zwar früher eine Schülerin von Hübner gewesen, hat sich jetzt aber mit ihrer wunderbaren Stimme zwischen Björk und Kate Bush und ihrer eigenen Komposition, dem fünfteiligen „Witches Brew“ als herausragende Musikerin gezeigt. Das Arrangement ist ein Husarenritt durch die musikalischen Genres. Von Drum and Bass über Trance und Filmmusik, à la Babylon Berlin bis hin zu wilder Jazz Improvisation.
Überhaupt ist das gesamte Orchester ein gewaltiges Konstrukt aus Streichorchester (2 Geigen, Bratsche, Cello und Kontrabass) und einer kleinen Bigband mit fetter Bläsersektion (u.a. 3 Saxophone, 2 Trompeten, Posaune, Klarinette und Waldhorn), sehr Bass-lastig mit Kontrabass, E-Bass, Bass-Klarinette, Tuba und Bass-Saxophon, wie Hübner im Vorfeld ankündigte. Genauso könnte man auch eine Rockband aus Schlagzeug, Piano, Gitarre und Bass bilden. Die gesamte Musiker-Truppe spielte aber trotz aller musikalischer Eskapaden klar - jederzeit waren die unterschiedlichen Instrumente erkennbar.
Zu Beginn gab es drei Stücke, deren Titel sich an der griechischen Sagenwelt orientieren, wie zum Beispiel „Modern Prometheus“, die zwar fast schon symphonisch beginnen, sich dann aber immer stärker durch jazzige Improvisationen steigern. Oder es gab ein großartiges Gitarrensolo, untermauert mit knackigem Schlagzeug und vom Bass unterstützt - bis die Bläser-Sektion diese Rocknummer mit einer satten Einlage übernahm. Manch Nummer beginnt erzählerisch, wechselt den Rhythmus und endet mit einem höllischen Trompeten-Solo.
Vielschichtig arbeitete sich das Kollektiv durch komplexe Kompositionen mit vertrackten Arrangements. Aber immer war jede einzelne musikalische Stimme klar erkennbar. Selbst bei ganz ruhigen Passagen, wie zum Beispiel bei einem ganz minimalistischen Piano-Einstieg mit einzelnen Tönen und Pausen dazwischen, der überging in relaxte Bassklänge mit lustigem Triangel-Gedängel und tiefsten Tuba-Tönen. Es artete irgendwann in eine wilde Bläser-Kakophonie aus, dass sich mein älterer Sitznachbar die Ohren zuhalten musste. Die Vielschichtigkeit des Konzertes wurde wieder deutlich, als die Nummer „Raumfahrt“ als völlig losgelöste Geschichte mit elektronischen Spielereien und experimentellen Tönen voranschritt, während ein wunderbares Klarinetten-Solo wieder die Bodenhaftung herstellte.
Nach einer Pause zum Erfrischen und Beine langmachen bewiesMonika Roscher erneut ihre Klasse: Das Stück „Irrlicht“ beginnt orchestral, läuft dann aber sehr dramatisch Richtung Filmmusik, ein wunderbares Violinen-Solo von Felix Weber beendete die sehr komplexe Arbeit, die mehrmals die musikalische Ausrichtung wechselte.
Den großen Bogen nach New York schlägt Gregor Hübner, als er erzählte, dass er dort, nachdem Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde, ein Stück geschrieben hatte, welches er als Teufelsaustreibung gedacht hatte, was auf Beifall des gesamten Publikums traf. Er nahm damals 2016 an einem Wettbewerb der New York Philharmoniker teil und gewann überraschend sogar den ersten Preis. Er hatte sich dabei an einer Komposition von Anton Dvorak angelehnt, die „er hoffentlich nicht so bald wieder in den USA spielen muss“. Er begann mit einem Violinen-Solo, unterstützt von allerlei elektronischen Echos und Verzerrungen, die zur Teufelsaustreibung mit einem wüsten Bläserpart anstieg und deren Dynamik, übrigens eine Uraufführung in Deutschland, nicht nur Trump erblassen lassen dürfte.
Was dem Leiter des Kollektivs bei der Vorstellung der Musiker*innen besonders wichtig war zu betonen, ist die Tatsache, dass der Pianist Martin Wuttke kurzfristig für einen Kollegen einspringen musste, der zwei Tage zuvor einen Unfall hatte. Er konnte also kaum mit den anderen Musikern proben, so dass er das gesamte Konzert vom Blatt spielte - sehr bemerkenswert! Am Ende des wunderbaren Konzertes gab es als Zugabe dann noch eine Nummer, die eine weitere Jazzpreis-Trägerin mit mongolischem Bezug komponiert hatte: „Near and far and everything in between“.
Als der Beifall des begeisterten Publikums nicht enden wollte, erklärte Hübner: „Einen haben wir noch. Außerdem dauert es viel zu lange bis alle Musiker die kleine, enge Bühne verlassen haben, dann können wir genau so gut noch eine Nummer spielen“. Heraus kam „Henry reloaded“, ein Stück mit Anleihen an den klassischen Komponisten Henry Purcell, das mit klassischem Streichorchester begann, sich aber wieder in ein experimentelles und wild ausuferndes Jazzstück verwandelte, das noch einmal zum Ende die Gehörgänge richtig durchgeblasen hat. Und ab ging es hinaus in die laue Sommernacht.
Das gesamte Classical Beat-Festival läuft noch während der gesamten Travemünde Woche bis zum 27. Juli auf verschiedensten Bühnen, wie im Atlantic-Hotel, im Brügmanns Garten, aber auch Open Air und umsonst auf dem Priwall und in der dortigen Hafenbar.
Fotos: (c) Holger Kistenmacher