Foto: Holger Kistenmacher

Classical Beat im Atlantic Hotel Travemünde
Kimmo Pohjonen – Akkordeon-Visionär und Punk-Schamane

Letzte Woche am Donnerstagabend gab sich der finnische Akkordeon-Virtuose Kimmo Pohjonen im Rahmen des "Classical Beat"-Festivals in Travemünde die Ehre. Ein magischer Abend voller Intensität, elektronischer Experimente, grandioser Inszenierung und musikalischer Virtuosität.

Der Ausnahme-Musiker aus dem hohen Norden, der auch visuell einiges hermacht - gekleidet in langem geschlitzten Rock, Muskel-T-Shirt und dezentem Irokesen-Haarschnitt - zeigte, wie entfesselt er sein Instrument beherrscht.

Zum Einstieg in das Konzert unter dem Kronleuchter des großen Saals im Atlantic-Hotel schreitet Pohjonen allein auf die Bühne. Sein übergroßes Akkordeon ist gespickt mit elektronischen Sound-Abnehmern und Mikrophonen. Per Fuß werden Loops, Samples, Effekte und elektronische Experimente aus dem Gerät gezaubert, die sämtliche Grenzen sprengen. Er entfacht ein wahres Sound-Gewitter aus getrommelten Rhythmen, verzerrten Streichen über die Seiten und archaischen Klängen, während sein Akkordeon leise sehnsuchtsvolle Melodien a la Seemannsart dazu steuert. Das Publikum erstarrt in hypnotischem Erstaunen.

Dann begeben sich die jungen Musiker des vielköpfigen Classical Beat Orchester unter der Leitung des Schweizer Dirigenten Etienne Abelin auf die Bühne. Die überaus talentierten jungen Musiker/innen haben die Aufgabe, während des Festivals die verschiedensten Solo-Künstler von Jazz über Elektronik bis hin zur Klassik zu begleiten und zu unterstützen. Was im Falle von Kimmo Pohjonen hervorragend gelingt. Der Sound wird dynamischer, dramatischer und voller, während der Punk-Schamane singt, tanzt und sein Instrument förmlich fliegen läßt.

Kimmo Pohjonen, Foto: (c) Holger KistenmacherKimmo Pohjonen, Foto: (c) Holger KistenmacherDenn er ist nicht nur ein grandioser Meister seines Instruments, sondern gleichzeitig auch ein sehenswerter Performer und Magier auf der Bühne. Mal knarzt, klöppelt, klickt oder rauscht das Akkordeon, während er stark verfremdete und Echo-überlagerte-Gesänge aus scheinbar archaischen Zeiten beisteuert. Sami-Gesänge seiner finnischen Heimat oder Natur-Sounds aus den tiefen Wäldern Finnlands zeigen die Verbindung seiner Musik zwischen wilden elektronischen Experimenten und Heimatklängen mit folkloristischem Anstrich.

Der 1964 in einem kleinen Dorf geborene Pohjonen bekam sein erstes Akkordeon als Achtjähriger. Später studierte er klassische Musik in Helsinki, war aber auch als Punk-Musiker in verschiedensten Projekten aktiv. Selbst das sogenannte finnische Akkordeon-Ringen wurde von ihm über die Landesgrenzen berühmt gemacht. Dabei begleitet er als tanzender, teilweise fast mitkämpfender Akkordeon-Spieler ringende Sportler im Kampf Mann gegen Mann. (Vor ein paar Jahren auf Kampnagel in Hamburg.)

Kimmo Pohjonen, Foto: (c) Holger KistenmacherKimmo Pohjonen, Foto: (c) Holger Kistenmacher

Nebenbei revolutionierte er das Spiel auf dem traditionellen Musik-Gerät, das in Finnland Nationalinstrument ist. Heute ist er in Rock, Folk, Avantgarde, Improvisation, Klassik, Tanz, Performance und Theatermusik zu Hause. So sehr er auch in der Musik seiner Heimat Finnland verankert ist, umso mehr gehört er heute zu den wenigen finnischen Musikern, die auch weltweit anerkannt sind.

Kimmo Pohjonen, Foto: (c) Holger KistenmacherKimmo Pohjonen, Foto: (c) Holger KistenmacherAber zurück zum grandiosen Auftritt unter dem Kronleuchter von Travemünde. Sein neues Projekt „Uzone“, das in Zeiten von Corona entstanden ist, ist ein wunderschönes Gemenge von Klängen, die aus der Natur, der Fauna und Flora, dem Wetter und der Kultur seiner Heimat entstanden sind, werden mit vollem Sound des bestens aufgelegten Orchester untermalt. Spiritualität, kirchenmusikalische Orgelklänge oder lieblich anmutende Melodien schlagen um in brachiale, ekstatische Feiermusik voller Freude und Wut. Selbst das Orchester lässt sich zu Experimenten mit gezupften Geigen, geklopften Instrumenten, zirpenden Bläsern und ungewöhnlichen, fantastischen Geräusch-Sammelsurien verleiten.

Aber irgendwie bekommt Pohjonen immer wieder die Kurve und bringt alle Emotionen wieder zusammen. Das Publikum staunt, scheint hypnotisiert, aber bejubelt den faszinierenden Auftritt mit Jubel und Standing Ovation. Das einzige Manko des wunderbaren Konzerts, das übrigens auch draußen auf einer Großbildleinwand übertragen wurde, war die Kürze des Programms. Zwar wurden die Musiker mehrmals durch Beifall auf die Bühne zurück geholt, aber nur eine kleine Zugabe durch einen klassischen finnischen Tanz wollte der Akkordeon-Schamane noch abliefern, während er sich immer wieder bedankend beim Orchester und Publikum von der Bühne verabschiedete.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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