Noura Dirani, die Direktorin der Kunsthalle St. Annen, bleibt ihrem Kurs treu: mehr Partizipation und Teilhabe für Jung und alt, mehr Transparenz der Museumsarbeit, mehr Zusammenschluss der Lübecker Museen, mehr Sichtbarkeit der Kunst und Kultur im öffentlichen Raum.
Dabei ist die aktuelle Schau in der Lübecker Kunsthalle ein kuratorisches Projekt, das aus der Not geboren wurde. Brandschutzmaßnahmen machten es notwendig, dass das Dachgeschoss des St. Annen-Museums, welches Jahrzehnte als Depot der vielschichtigen Sammlung des Museums diente, nach und nach geräumt und in ein neues „Zwischendepot“ verlagert werden muss, bis ein endgültiges Lager auf der Höhe der Zeit mit modernster Technik geschaffen wird. Dabei wurden verborgene Schätze wieder entdeckt, die noch nie oder sehr selten ausgestellt wurden.
Dr. Tilmann von Stockhausen, Monika Frank, Noura Dirani und Team
Monika Frank, Kultursenatorin der Stadt und Dr. Tilmann von Stockhausen, der Leitende Direktor der Lübecker Museen, die ebenfalls einen ersten Blick auf die neue Ausstellung warfen, betonten, dass normalerweise nur ca. 80% der musealen Bestände wirklich auch öffentlich präsentiert werden. Gleichzeitig macht die Schau aber auch deutlich, was die Aufgaben eines Museums neben der Präsentation von Kunst und Kultur sei, nämlich das Sammeln von Kulturgütern und deren Aufarbeitung und Erforschung. Dazu gehören der Erhalt und die Sicherung von Kunst durch Restaurierung und Dokumentierung.
Wie Geschichte auch der Kunst gerade in heutigen Zeiten politisch umgewertet und instrumentalisiert wird, zeige die aktuelle Politik in den USA unter dem wirren Präsidenten Trump, erklärte Noura Dirani und verdeutlichte damit, wie wichtig Forschung und Sicherung von Kultur und Kunst für das Überleben unseres kulturellen Erbes sei. Dafür sei natürlich viel Geld, viel Arbeit im Team, aber auch die Anwendung von neuesten Techniken der Restaurierung, wie der Digitalisierung für die Kunstbestände der Hansestadt äußerst wichtig. Denn nicht umsonst genießen die öffentlichen Kunstinstitutionen laut einer Studie das größte Vertrauen der Bevölkerung, erzählte Frau Dirani mit Stolz.
Das Schaulager-Depot von Oben
Aber was wird der Bevölkerung und dem Kunst interessierten Menschen jetzt konkret geboten. Die Museumsbesucher*innen werden buchstäblich Zeuge einer Depot-Räumung in Echtzeit. In Videos im Treppenhaus und im Fahrstuhl wird gezeigt wie die Kunst ausgelagert wird. Alles wird dokumentiert und verschafft Einblicke in die konkrete Museumsarbeit. Dabei arbeiten die verschiedenen Institutionen, wie die Kunsthalle, das St. Annen-Museum und das Museum Behnhaus Drägerhaus zusammen.
So zeigt die aktuelle Schau eine beeindruckende Bandbreite an Kunst aus neun Jahrhunderten, die teilweise noch nie zu sehen waren. Vom barocken Silberschatz aus dem St. Annen-Kloster und der nicht mehr existentierenden Kirche dazu - ein absolutes Highlight der Ausstellung - über Gemälde aus der Sammlung Behnhaus/Drägerhaus bis hin zur Kunst der Gegenwart aus dem Bestand des St. Annen-Museums. Darunter rangieren große Namen der Kunst aus Vergangenheit und Neuzeit, wie Artefakte des lutherischen Theologen Jacob von Melle aus dem 17. Jahrhundert oder international renommierte Künstler*innen wie Willi Baumeister, Lea Grundig, Hanna Jäger, Ernst Wilhelm Nay, Markus Lüpertz, Jonathan Meese, Andy Warhol oder Sigmar Polke.
Blick ins Foyer mit Videoarbeit und den spielerischen Modulen
Gleich im Foyer zeigt ein wunderbares Video „Tightrope“, (übrigens eine Leihgabe der Hamburger Deichtorhallen) der russischen Künstlerin Taus Makhacheva (1983) aus dem Jahre 2015, wie der Seiltänzer Rahul Abakarov 61 Gemälde und Zeichnungen, eine Auswahl von Werken aus dem Museum of Fine Art Dagestan, auf einem Seil balancierend zwischen zwei Berggipfeln im Kaukasusgebirge transportiert. Die Neuordnung des dortigen Museumsdepots steht symbolisch für die Verlagerung aus den Lübecker Beständen. Umringt wird der Film von den vielschichtigen, weichen, flexiblen Modulen des griechischen Künstlers Andreas Angelidakis aus dem Jahre 2023 mit dem Namen „The Beach“, ein Symbol für das Spielen wie auch des Verweilen, welches seit drei Jahren von Kindern und Erwachsenen ausgiebig genutzt wurde und sich dementsprechend natürlich in einem Prozess von Veränderung und Abnutzung befindet.
Gebrauchspuren des Alterns zeigt auch die wunderbare Skulptur des „Verkündigungsengel“, der vermutlich aus der Kirche St. Marien zu Lübeck stammt und um 1430 entstanden sein dürfte und in einem Glaskasten gezeigt wird. Die Fragilität des Objekts, das gerade ganz vorsichtig von der Restauratorin Karin Schulte bearbeitet wird, um später zurück in die Dauerausstellung zu gelangen, wird deutlich, weil einer der Flügel neu verleimt werden musste und dabei mit Fahrradschläuchen gesichert wurde. An die abgebrochene Nase wird sich aber nichts ändern, denn die ist nicht ersetzbar wie auch die fehlende Figur der Maria, die einstmals Teil dieser Zweier-Skulptur war.
Der reparaturbedürftige Verkündigungsengel
Der Gang durch die Schau im Erdgeschoss führt dann an eine große Plexiglasscheibe, hinter der sich etwa 350 Gemälde aus dem Depot in Regalen befinden, um zu dokumentieren, wie so ein Depot normalerweise aussieht. Einen genaueren Blick auf die vielschichtigen Kunstwerke erhält man im Treppenhaus, wo eine Plattform die Sicht in den Raum frei gibt und der Kunstkenner zum Beispiel Arbeiten des Nagelkünstlers Günter Uecker entdecken kann. Dieses sogenannte Schaudepot mit seinen Hängeflächen beherbergt unter anderem Arbeiten von Horst Skodlerrak, Gotthard Graupner oder Emil Schumacher.
Ein Stockwerk höher sind diverse Bilder, Malereien und Zeichnungen in Petersburger Hängung an den Wänden zu sehen, während diverse Objekte und Skulpturen aus den verschiedensten Epochen der Zeit auf einem großen Regal in der Mitte des Raumes versammelt sind. Da steht eine Darth Vader-Skulptur von Jonathan Meese neben unfassbar kostbarer Schriftkunst wie eine historische Bibel aus dem Jahr 1736, gedruckt in Nürnberg, während daneben Buch-Winzlinge wie ein Taschenkalender von 1832 oder eine Miniaturbibel (1526), die kaum größer als ein Fingernagel sind, präsentiert werden. Ein Kruzifix aus Elfenbein aus der 2. Hälfte des 17. Jahrhundert konkurrierte mit einem Kinderstuhl von Luigi Colani oder einem Ikarus von Otto Mantzel.
Historische Bibel aus dem Jahr 1736
Im gegenüber liegenden Saal sind Gemälde und Objekte von Lübecker Bürgern zu sehen, die sich an der Aktion „Unsere Schätze, Deine Schätze“ beteiligt haben. Dabei waren sie aufgerufen, private Kunstwerke und Alltagsgegenstände an das Museum zu liefern, hinter denen gesellschaftliche Umbrüche oder persönliche Erfahrungen steckten. Dabei ging es natürlich auch um die Frage, wie und warum Museen sammeln. In dem Raum mit der zart orangen Farbe hat Noura Dirani zunächst Bilder einfach nach Größe gehängt, vom kleinsten Kinder-Porträt, das eine heute 99jährige Lübeckerin zeigt und die auch persönlich bei der Ausstellungseröffnung dabei sein wird, bis hin zum berühmten Holstentorbild von Andy Warhol. Dazwischen eine neue Schenkung eines Lübecker Bürgers (Dr. Hans Christoph Gaedertz), ein vermutlicher Correggio aus dem 16. Jahrhundert, über dessen Echtheit noch geforscht wird.
Dazu steht ein Schrank mit Schubladen, wo die beeindruckende Sammlung von Leonie von Rüxleben, die diese dem Museum vermacht hat, gezeigt wird (darunter Werke von Otto Dix, Salvador Dali, Max Beckmann, Man Ray, George Grosz, Käthe Kollwitz oder Lea Grundig, um nur einige zu nennen - ganz großartig! Besonders emotional besetzt ist ein kleiner Teddy, der einer Lübeckerin geschenkt wurde direkt nach dem Krieg, obwohl das Geld für notwendige Nahrung kaum vorhanden war. Dazu kommen aber auch noch Objekte und Skulpturen wie die Meisterarbeit vom Silberschmied Werner Oehlschläger aus dem Jahr 1955 oder ein Porzellandrache von Hugo Meisel aus den 1920er Jahren, sowie eine Originalzeichnung mit Widmung von William Kentridge aus Privatbesitz.Teddy aus der Kriegszeit mit rührender Geschichte
Weiter geht es mit dem Thema Zerbrechlichkeit von Kunstwerken. In etwas unheimlich abgedunkelter Atmosphäre werden Werke gezeigt, die Schäden aufweisen aufgrund des Alters oder wie ein Holzrelief, das aus einem brennendem Haus gerettet wurde. Dazu ist Glaskunst zu sehen, das Risse aufzeigt oder Malerei, wo die weiße Grundierung durchkommt. Die gezeigten Objekte zeigen explizit, wie schmerzhaft und herausfordernd die Arbeit von Museen ist, wenn Kunstwerke Schaden nehmen. Gleichzeitig wird deutlich, welcher Handlungsbedarf besteht, wenn bedrohte Bestände der Sammlung für die Zukunft erhalten werden sollen.
Wie Schätze tatsächlich erhalten blieben und durch Restaurierung wieder in neuem Glanz erstrahlen zeigt das Kellergeschoss, wo Teile des Silberschatzes des St. Annen-Klosters ausgestellt werden und wieder an ihrem ursprünglichen Platz gezeigt werden können, denn dort befand sich ursprünglich tatsächlich die St. Annen-Kirche. Dementsprechend sind silberne Kannen, Kelche und religiöse Objekte tatsächlich auf einem Altar-Sockel zu sehen, auch wenn sie teilweise schweben. Die Objekte entstanden ursprünglich im ausgehendem 16. beziehungsweise frühen 17. Jahrhundert. So sind in einem Glaskasten auch vier aufwendig gearbeitete Silber-Klingelbeutel schwebend zu sehen, die teilweise über 450 Gramm wiegen und früher mit ledernem Innenbeutel ausgestattet waren, wie die Restauratorin erklärte. Die gespendeten Münzen klingelten trotzdem hörbar im Klingelbeutel. Die wunderbaren Arbeiten sind dabei Aushängeschilde der hohen Qualität der Goldschmiedekunst der Hansestadt.
Die neue Schau in der Lübecker Kunsthalle
Und das war noch längst nicht alles, was es zu sehen und zu entdecken gibt in dieser wunderbaren und vielfältigen Ausstellung, die am Freitag eröffnet wird und bis zum 10. August 2025 läuft. Neben der Ausstellung wird es wieder ein vielschichtiges Begleitprogramm geben wie Stadtrundgänge, Workshops für Kinder und Jugendliche und die besonders beliebten Künstler-Dinner. Das Kunstcafé wird ein klassisch norddeutsches Menü kredenzen, das Andy Warhol bei seinem Besuch 1980 in der Schiffergesellschaft verspeiste. Neben diesem beliebten Art-Dinner wird außerdem der „Museums Express“ dafür sorgen, dass die Kunst auch Menschen erreicht, die das Museum aus den verschiedensten Gründen nicht besuchen können. Typisch Noura Dirani. Ich kann nur sagen: Bitte weiter so!
Fotos: Holger Kistenmacher