Choreografie Is This It?: Ricardo Urbina, Foto: (c) Olaf Struck

Das Ballett Kiel zu Gast im Theater Lübeck
Der flüchtige Augenblick

Freund*innen des klassischen Balletts und des zeitgenössischen Tanzes haben es in Lübeck nicht leicht, ihrem speziellen Kunstgenuss zu frönen. Denn schon vor vielen, vielen Jahren musste das Lübecker Theater seine Ballett-Sparte aus finanziellen Gründen schließen. Seitdem ist der Tanzfreund oder die Ballettfreundin darauf angewiesen, das jährliche Gastspiel des Ballett Kiel heranzusehnen, die in Kooperation mit den Lübeckern jeweils für einige Auftritte in die Hansestadt kommen.

Zwar gibt es noch die rührige und engagierte Tanz-Truppe von TanzOrtNord, die bis dato aber unter schwierigsten Bedingungen immer wieder neue Stücke kreierten. Wie gerade jetzt, wo sie an neuer Spielstätte berühmte Bilder zum Tanzen bringen. Den beiden Choreografinnen Ulla Benninghoven und Shiao Ing Oei ist es zu verdanken, dass moderner Gegenwartstanz auch in Lübeck eine Heimat hat und ganzjährig präsent ist.

Dementsprechend erwartungsvoll war der fast ausverkaufte große Saal des Lübecker Theaters gestimmt, als die Tänzer und Tänzerinnen vom Ballett Kiel unter der Leitung von Yaroslav Ivanenko und Heather Jurgensen, die ein dramaturgisch geschicktes und vielseitiges Programm ausgewählt hatten, ihr Gastspiel mit der Premiere am Samstag gaben. Gezeigt wurden „Kintsugi“ von Edvin Revazov, zwei kurze Stücke von Antoine Jully („The Dying Poet“ und „Is This It?“) sowie die getanzte Hommage an Gustav Klimt „Gilded Reverie“ von Kristina Paulin.

Choreografie Kintsugi: Ensemble, Foto: (c) Olaf StruckChoreografie Kintsugi: Ensemble, Foto: (c) Olaf Struck

Beim ersten Stück sitzen zunächst 8 Tänzer*innen mit den Rücken zum Publikum auf der Bühne, während im Hintergrund eine weitere Tänzerin verrenkt auf dem Deckel des Flügels liegt, an dem der Pianist die Kompositionen von Leon Gurvitch spielt, die dieser während der Corona-Zeit komponierte. Es handelt sich um fünf feine, teils dramatische, teils mediterran beschwingte, vor sich hin perlende Musikstücke, die wunderbar die Choreografie untermalen. Dabei versuchen die 10 Tänzer*innen dem Titel des Tanzstückes mit traditionellen Ballett-Techniken nahe zu kommen.

Das Stück basiert auf der japanischen Methode, zerbrochenes Porzellan mit Gold durchsetztem Kitt wieder zu heilen, ohne die Bruchstellen unsichtbar zu machen, sondern eher noch zu betonen. Der ursprünglich aus der Ukraine stammende Choreograf Edvin Revazov, der seine tänzerische Ausbildung sowohl in Moskau als auch am Hamburger Ballett erhielt, unternimmt damit den Versuch, gegen die Wegwerf-Mentalität der heutigen Zeit vorzugehen. Leider trifft diese Mentalität ja auch auf Beziehungen zu, wo schon kleinste Krisen zur Beendigung führen können.

Choreografie Kintsugi: Ricardo Urbina | Julia Savchenko | Baikhadam Tungatarov, Foto: (c) Olaf StruckChoreografie Kintsugi: Ricardo Urbina | Julia Savchenko | Baikhadam Tungatarov, Foto: (c) Olaf Struck

Er setzt dagegen auf die Schaffung einer völlig neuen Schönheit und einer Wertschätzung der ursprünglichen Verbindung zwischen Menschen. So tanzt sich das Ballett mit allen Mitteln des traditionellen Balletts wie Spitzentanz, wunderbaren Hebungen und Drehungen, präzisen Schritten, Pirouetten und Armschwüngen durch die Höhen und Tiefen von menschlichen Beziehungen. So finden sich trotz verschiedener Krisen und scheinbarer Rivalitäten die tanzenden Paare am Ende wieder zusammen.

Die wunderbar am Flügel gespielte Musik war dabei lebendig, oft gegensätzlich und voller Kontraste. Neben fünf von den insgesamt sieben Musikstücken der „Musique Mèlancholie“ erklangen noch zwei weitere musikalische Leckerbissen, das furiose Stück „Force Majeur“ aus dem Jahre 2020 und der „Female Dance“, der eigens für die Kieler Choreografie komponiert wurde.

Während zu Beginn des Stückes Tanz und Musik noch bruchstückhaft zusammen passten, wurden sie im Laufe der Dramaturgie zu einer akustischen und optischen Einheit, die die gesamte Bandbreite der menschlichen Empfindungen und Beziehungen wieder zusammenfügte, auch wenn die Bruchlinien nicht durch Kitsch, sondern durch tänzerische Präzision vereinigt wurden.

Choreografie The Dying Poet: Baikhadam Tungatarov und Gulzira Zhantemir, Foto: (c) Olaf StruckChoreografie The Dying Poet: Baikhadam Tungatarov und Gulzira Zhantemir, Foto: (c) Olaf Struck

Dann folgten zwei Duette, die das Können des Balletts Kiel zwischen klassischem Tanz und modernem zeitgenössischem Tanz präsentierten. Beide Stücke, entwickelt von Antoine Jully, Chefchoreograf und Ballettdirektor der Ballettkompanie Oldenburg, standen sich dabei wunderbar diametral und abseits des üblichen Mainstreams gegenüber. In „The Dying Poet“ nach der klassischen, gleichnamigen Komposition des amerikanischen Komponisten Louis Moreau Gottschalk, welches zur Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges komponiert wurde, stand das harmonische Zusammenspiel des Tanzpaares mit Hilfe von Linien, Figuren und Hebungen des klassischen Balletts im Vordergrund. Das teilweise melancholische Stück zwischen Sehnsucht und Zerrissenheit zeigte hervorragend das tänzerische Können der Solisten Gulzira Zhantemir und Adonis Corveas Martinez, die die besondere körperliche Beherrschung und Disziplin des klassischen Balletts betonten.

Gänzlich anderer Natur war meine Lieblings-Arbeit, das freie Tanz-Duett „Is This It“ nach der gesungenen Musik vom israelischen Gesangsstar Asaf Avidan, dessen Falsett-Stimme für knisternde Spannung sorgte. Ausgestattet mit nur einem roten Neon-Plasikstuhl zeigten die beiden großartigen Tänzer Virginia Tomarchio und Ricardo Urbina, was moderne Tanzsprache ausmacht. Mit viel Humor, erstklassigem Bewegungsrepertoire, wunderbaren Bilden und hoher artistischer Beweglichkeit präsentierten sie ein Paar zwischen Nähe und Abstand. Mann und Frau auf der Suche nach Verbundenheit und im ewigen Kampf zwischen Mut und Resignation. Wie schrieb Antoine Jully im Programmheft: „Der Mann, die Frau. Sie suchen Nähe. Sie brauchen Abstand. Er ist auf der Suche. Findet er sie? In ihr? In sich? WAR ES DAS?“ Nach dem Ende des Stückes gab es erstmalig am Abend Jubelschreie und enthusiastischen Beifall für beide Tänzer.

Choreografie Is This It?: Virginia Tomarchio | Ricardo Urbina, Foto: (c) Olaf StruckChoreografie Is This It?: Virginia Tomarchio | Ricardo Urbina, Foto: (c) Olaf Struck

Der eigentliche Höhepunkt des Abends war aber die tänzerische Hommage an den Jugendstil-Maler und Künstler-Fürsten Gustav Klimt. Der Wiener Maler (1862 - 1918), dessen Werke der sogenannten „Goldenen Periode“ durch das viele Blattgold wie beim berühmten „Kuss“ als Wegbereiter der romantischen Malerei zwischen Dekadenz und religiösen Assoziationen diente, war weltberühmt und machte ihn zum bedeutendsten Maler des Jugendstils. Leben, Liebe und Tod, aber auch viel Erotik waren seine Hauptthemen. So auch in dem Stück „Gilded Reverie“ von Kristina Paulin. Zu den Klängen des Sounddesigner und Komponisten Davidson Jaconello, die eine zeitgenössische Sound-Collage aus Musiken von Wolfgang Amadeus Mozart, Arvo Pärt und Edvard Grieg gepaart mit elektronischen Spielereien und Verzerrungen beinhaltet, hat die Choreografin Paulin eine visuelle und emotionale Hommage an das eindrucksvolle Schaffen Klimts in Form eines einzigen Akts erarbeitet.

Es beginnt mit einem goldenen Tunnel, in dem zwei Tänzer die Geburt von Klimts künstlerischen Visionen und die Entstehung der Sezessionsbewegung symbolisieren. Die rätselhafte und tiefgründige Welt von Klimt wird durch die güldenen Kleider der Tänzerinnen, einer Goldmaske und viel goldenem Gesichtsschmuck zum Ausdruck gebracht. Dazu tanzt das gesamte Ensemble mit ausladenden Armschwüngen, eleganten Hebungen und exakten Schrittfolgen. Hinzu kommt ein wunderbares Bühnenbild aus Details der Malerei von Gustav Klimt auf großen Leinwänden, goldenem Vorhang und einer riesigen Sonne, die glitzernd von der Decke hängt. Das großartig aufgelegte Ensemble verwandelt sich in lebende Leinwände und erforscht das Leben und den Tod des Malers. In abstrakten Tanzbildern wird das Leben des Künstlers plastisch auf die Bühne gebracht.

Choreografie Gilded Reverie: Ensemble, Foto: (c) Olaf StruckChoreografie Gilded Reverie: Ensemble, Foto: (c) Olaf Struck

Herausragend Leisa Martinez Santana als Emilie Flöge, Muse und glühende Geliebte von Klimt, sowie der großartige Ricardo Urbina in der Figur des Malers. Ganz am Ende wird noch das berühmte Motiv des „Kusses“ im Halbdunkel des Goldtunnels angedeutet, während der Sturm der Begeisterung durch das Publikum rauscht. Langanhaltender Beifall und Standing Ovation waren der verdiente Lohn für einen wunderbaren Tanzabend voller Kontraste, herrlicher Musik und großartigem Tanz, der lange nachhallt. Hoffentlich müssen die Lübecker Ballett-Freunde nicht zu lange auf weitere Gastspiele warten.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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