Büchertipps
Neue Bücher für den Literaturfrühling

Die Blumen und die Baumblüten im Lübecker Stadtpark haben sich explosionsartig vermehrt und zeigen, dass der lang ersehnte Frühling da ist. Dabei ist es gerade wenige Wochen her, dass der Winter mit Minustemperaturen ein spätes Comeback feierte und ich glücklicherweise auf der anderen Seite der Erde, in Südafrika bei 30 Grad am Strand rumlag. Dabei hatte ich die Muße, in den aktuellen Büchern zu schmökern, die auch gerade bei der Leipziger Buchmesse vorgestellt wurden. Hier meine Auswahl für den Lese-Frühling.

Zunächst möchte ich die koreanische Literatur-Nobelpreisträgerin Han Kang vorstellen, dir mir bis zur überraschenden Preisverleihung, wie vermutlich den meisten Leser*innen völlig unbekannt war. Sie hat mit „Unmöglicher Abschied“ gerade ein neues, sehr poetisches wie auch brutales Buch veröffentlicht, das sich wie eigentlich alle ihre Bücher auf ihr eigenes Land bezieht.

Südkorea, das ferne Land im Osten Asiens erlebt seit einigen Jahren ja einen gewissen Hype in sämtlichen Genres der Kultur. Waren es zunächst die schrillen, jungen K-Pop-Bands, wie BTS oder die Stray Kids, die die Popmusik-Welt eroberten, gelang dem südkoreanischem Filmemacher Bong Joon-ho mit „Parasite“ ein weltweiter Kinoerfolg. Mehr als 200 Preise rund um den Globus, sowie vier Oscars waren der verdiente Lohn für den unglaublichen Film. Aber auch die Netflix-Serie „Squid Game“ sorgte vor drei Jahren für einen unfassbaren Hype unter den Streamern. Seit 26. Dezember 2024 ist jetzt die 2. Staffel am Start. Daneben sind auch südkoreanische Mode und das leckere Essen aus dem ostasiatischen Land absolut en vogue.

Aber zurück zum Roman von Han Kang. Darin erzählt die Schriftstellerin von einer Freundschaft zweier Frauen und gleichzeitig von der gewaltsamen koreanischen Geschichte. In einem Porträt des Schwedischen Fernsehens in Zusammenhang mit der Nobelpreisverleihung erzählte Han Kang von einem Schneetraum, den sie hatte und in ihrem aktuellen Buch verwendete. Ein Traum über Erinnerung, Trauer, Zeit, die Toten und die Lebenden. Manche Träume beeinflussen sie mehr als reale Erfahrungen, erklärte sie.

Und so beginnt auch „Unmöglicher Abschied“ mit einem Traum. Gyeongha, eine Südkoreanerin mittleren Alters, die unter Schlaflosigkeit leidet, träumt von einem verschneiten Acker, der in einen Berg übergeht. Bis zur Kuppe des Berges stehen Tausende schwarze Baumstümpfe unterschiedlicher Größe. „Ist das hier ein Friedhof“, fragte ich mich. „Sind all die Baumstümpfe Grabsteine?“ Seit sie ein Buch über ein Massaker in ihrer Heimat veröffentlicht hat, taucht dieser aufwühlende Traum immer wieder auf, selbst in tropisch heißen Nächten in Seoul, wo sie lebt. Für sie symbolisiert die dichte Schneedecke anscheinend ein Zeichen, dass die Folgen über die Gräueltaten in ihrem Land unter der Decke gehalten werden sollen.

Als es dann aber tatsächlich in Seoul schneit, macht sich Gyeongha auf eine irrwitzige Mission: Die Ich-Erzählerin ist auf Bitten ihrer Freundin Inseon, die nach einem Unfall im Krankenhaus liegt, von Seoul auf die Insel Jeju geflogen. Zu Fuß kämpft sie sich durch einen Schneesturm zu einem abgelegenem Haus, weil sie dort einen weißen Vogel füttern soll, den ihre Freundin zurücklassen musste. Doch die Reise in die abgelegene Gegend wird zu einem surrealen Trip voller Schnee, Schmerzen und Einsamkeit und gleichzeitig zu einer Reise in die dunkle Geschichte Koreas und des Korea-Kriegs Anfang der 1950er Jahre. Surreal oder irrational, irrwitzig oder angemessen - das sind keine Kategorien für Han Kangs Frauenfiguren, die tun, was sie tun müssen und nur ihren inneren Stimmen folgen. Immer stärker schiebt sich die grauenvolle Geschichte über die 30.000 Menschen, die 1948 auf Jeju nach einem lokalen Aufstand brutal ermordet wurden, in den Vordergrund der Handlung des Romans. Denn auch Angehörige von Inseon gehörten zu den Opfern, über die sie als Filmemacherin recherchiert hatte und Dokumentarfilme gedreht hatte. Angesichts der Grausamkeit, zu der Menschen fähig sind - welchen Sinn machen da Worte wie Irrwitz oder Vernunft und Realität?

Bei ihrem Welterfolg „Die Vegetarierin“, der 2016 den Man Booker International Prize erhielt, sei es um Zurückweisung von Gewalt gegangen, so Han Kang. Sie habe gedacht, dass Pflanzen ohne Gewalt auskämen, aber tatsächlich zeigt die Natur, dass auch Pflanzen manchmal Kämpfe untereinander ausfechten. Ähnlich suggestiv und teils alptraumhaft wie die „Vegetarierin“ schließt „Unmöglicher Abschied“ auch an den Roman „Menschenwerk“ an. Dieser thematisiert das Massaker von Gwangju von 1980, wo die südkoreanische Militärregierung die Demokratiebewegung gewaltsam niederschlagen ließ.

Gewalt in der Geschichte ihrer Heimat spielt also immer eine ganz große Rolle in den Büchern von Han Kang, dabei schreibt sie nicht dokumentarisch, aber sie erzählt von den Mühen der Spurensuche. Die Handlung verschwimmt immer mehr zwischen den Realitäten, Orten, Zeiten und Personen. Vielleicht ist aber auch alles nur wieder ein weiterer schlimmer Traum, angestoßen von einer noch viel schlimmeren Wirklichkeit. Eindeutig ist bei Han Kang fast nichts - außer der unfassbaren Gewalt, die wiederum tatsächlich passiert ist. Ganz allmählich wird der Leser, die Leserin in ein fantastisches und schier unentwirrbares Geflecht von Schmerz und Alptraum gezogen, während es draußen im Dorf ohne Unterlass weiter schneit.

Han Kang: Unmöglicher Abschied, Aufbau-Verlag, 12/2024, Berlin, 315 Seiten, 24 Euro.

Um Geschichte geht es auch im neuen Buch von Jakob Hein, den so einige Kritiker für den lustigsten Psychiater halten, der auch noch solche Bücher schreibt. Ich habe den in Leipzig geborenen Schriftsteller, der wenn er keine Bücher schreibt, in seiner eigenen psychiatrischen Praxis arbeitet, hier schon mehrfach vorgestellt: Zum Beispiel mit „Die Orientmission des Leutnant Stern“ von 2018. Jetzt geht es aktuell um die DDR, Cannabis und den Weltfrieden. Sein Anfang Februar erschienener Roman „Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste“ ist ein irrwitziger Parforceritt durch die Geschichte der DDR zu Zeiten des Kalten Krieges. Und natürlich ist alles Fiktion und erfunden, dabei aber unverschämt lustig und voller realer Polit-Prominenz.

„Es war eines der erstaunlichsten Geschäfte des Kalten Krieges: Ausgerechnet der als strammer Kommunisten-Feind bekannte CSU-Chef Franz Josef Strauß vermittelt völlig überraschend einen Kredit von einer Milliarde D-Mark an die DDR. Das kurz vor dem Bankrott stehende Land bekam so 1983 noch einmal eine Galgenfrist.“ Und das ist tatsächlich passiert. Allerdings erfindet Jakob Hein zu dem historischen Deal, bei dem der Westen über den Tisch gezogen wurde, eine gänzlich andere, frei erfundene, aber unfassbar absurde und irre lustige Geschichte einer Erpressung, die ihren Ausgang nimmt im Büro des frisch gebackenen, unterbeschäftigten Assistenten der Staatlichen Planungskommission.

Dort „arbeitet“ neuerdings Grischa Tannberg, der aber genauso wie seine verschiedenen Kollegen in seiner Abteilung hauptsächlich die Zeit totschlägt, in der Kantine rumhängt oder Saufgelage abhält. Der ambitionierte Jungspund soll sich um die wirtschaftlichen Beziehungen zu Afghanistan kümmern. Das gravierende Problem dabei ist, wie ihm sein offenherziger Chef erklärt: „Die Afghanen haben nichts“. Was zur Folge hat, dass die Angestellten rund um Grischa hauptsächlich morgens schon auf die Mittagspause warten und dann in der Kantine zu großer Form auflaufen. Aber Grischa ist wirklich fleißig und willig, seinem Land zu dienen, auch wenn sein Chef ihm anvertraut, dass er in den ersten Wochen seiner Tätigkeit in der Behörde die „kunstvolle Zeit des Wartens“ üben solle. Auf seine Frage, was das heiße, sagt sein Chef: „Sie warten darauf, dass etwas zu tun ist, und bleiben dabei in innerer Spannung“. Ansonsten gilt es, emsigen Tatendrang vorzutäuschen.

Doch der arme Grischa ist ambitioniert und voller großer Ideen. Denn in Afghanistan gibt es doch gigantische Hanffelder. Der Stoff daraus ist zwar weltweit meistens verboten, so auch in der BRD, aber Alkohol und Nikotin sind eigentlich ja auch Drogen und frei verfügbar. Und natürlich müsse sich die DDR wohl kaum die Haltung des Klassenfeindes zu eigen machen, argumentiert Grischa und überzeugt seine Vorgesetzten davon, dass die DDR doch ihre ganz eigene Position zum Thema „Medizinalhanf bestimmen könnte. Nebenbei würden dabei die afghanischen Bauern in ihrem Freiheitskampf unterstützt. Gesagt, getan: Grischa und seine Genossen fliegen nach Kabul und kaufen dort kiloweise Cannabis ein, um einen gut laufenden Handel mit landestypischen Produkten aus Afghanistan in einem deutsch-afghanischen Freundschaftsladen an einer Übergangsstelle nach West-Berlin zu betreiben. Nach kurzen Anlaufproblemen spricht sich das in den Kifferkreisen von Berlin herum und schon bald stehen die Kunden aus der ganzen Bundesrepublik Schlange. Denn gegen Quittung und ganz legal gibt es dort den allerbesten Stoff, original „schwarzer Afghane“.

Das Geschäft läuft wie am Schnürchen, die Devisenquelle sprudelt reichlich West-Mark in die DDR, während der BRD eine Cannabis-Schwemme aus dem Osten droht. Das bleibt alles natürlich nicht unbemerkt. Die Polizei kommt täglich zum Freundschaftsladen und wundert sich über die Heerscharen an jungen Westlern. „Es herrschte das totale Chaos“, heißt es im Roman, aber die Polizei traute sich nicht den großen Zugriff. „Das musste politisch viel weiter oben gelöst werden.“ Und weiter oben gerät man im Osten wie im Westen in hektische Betriebsamkeit. Dementsprechend kommt auch der geruhsame Alltag im westdeutschen Büroalltag im Ministerium für innerdeutsche Beziehungen in Unordnung. Jakob Hein entwirft einen genüsslichen Blick in die beiderseitigen Amtsstuben, wo es mit der Ruhe vorbei ist. Auf DDR-Seite wittert man das große Geschäft mit dem afghanischen Stoff und träumt von Freundschaftsläden entlang der gesamten Grenze, während im Westen die Panik ausbricht, dass die Bundesrepublik einer Cannabis-Schwemme aus dem Osten ausgeliefert sein könnte.

Ähnlich wie Grischa in Ost-Berlin gibt es aber in Bonn auch eine junge, ehrgeizige Referendarin, der es ebenfalls schwer fällt, Geschäftigkeit vorzutäuschen. So entwickelt sie den Plan, wie man die deutsche Jugend schützen könnte, nämlich mit viel Geld als Lösung. Mit einer gewaltigen Summe an Devisen könnte man den Osten davon abbringen, das Dope frei zu verkaufen. Also wird ein Treffen in Bayern vereinbart, wo sich die Creme der gegenseitigen Politprominenz ein Stelldichein gibt, um bei Schweinsbraten, reichlich Bier und Schnaps und mit Haschisch gewürzten Speisen dem Spuk ein Ende zu setzen. Jakob Hein inszeniert einen großartigen Showdown, bei dem zwei hochrangige und bald ziemlich zugedröhnte Verhandlungsgruppen sich überraschend gut verstehen. Historische Personen wie Stasi-Chef Erich Mielke und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorf kommen sich persönlich näher, genauso wie die unteren Ebenen wie Grischa und die Referendarin Wiebke. Und der Rest ist Geschichte.

Ein bisschen Grass, ein genialer Coup und das Wunder von Bayern, schreibt der Verlag. Christof Hein schafft es, einen herrlich absurden, voll bekifften und abgedrehten Roman zu schreiben, wo man als Leser/Leserin kaum aus dem Lachen rauskommt. Gleichzeitig entwirft er einen der entspanntesten Helden der modernen Gegenwarts-Literatur und zeichnet ein Bild vom Ende der DDR, die trotz des unglaublichen Milliardenkredits nicht mehr gerettet werden kann.

Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste, Galiani-Verlag Berlin, Februar 2025, 256 Seiten, 23 Euro.

Mein nächster Buch-Tipp stammt vom österreichischen Schriftsteller Christoph Ransmayr, der als Weltreisender und viel schreibender Autor uns seit Jahrzehnten die Welt auf seine ganz eigene Art und Weise näher bringt. Jetzt hat er ein Buch vorgelegt mit 70 Schwarz-Weiß-Fotos und 70 kurzen Prosatexten. „Mikroromane“ nennt Ransmayr seine kleinen, in sich abgeschlossenen Geschichten, die jeweils anhand dazugehöriger Fotos kurze Alltagsmomente einfangen. Keine der Mikroromane ist länger als 3 Seiten, beschreibt aber jeweils einen ganz eigenen Kosmos. Das können seine geliebten Berge in seiner Heimat Oberösterreich sein, wo er schon als Kind mit dem Vater gewandert ist, um die Geheimnisse der Felsentore des Toten Gebirges zu erkunden oder die Esels-Pinguine von Simon`s Town südlich von Kapstadt.

Da er ein viel gereister Autor ist, der fast die ganze Welt gesehen hat, nimmt er den Leser mit zu dem unter Gletschern begrabenen Franz-Josef-Land auf dem Weg zum Nordpol, genauso wie in den umkämpften Dschungel zwischen Uganda und dem Kongo oder an die brasilianische Regenwaldküste. Oft geht es um Barbarei und Grausamkeiten, wie in der Geschichte der verschollenen Südseeinseln oder um Schauplätze, wo während des Nationalsozialismus Menschen gefoltert, ermordet oder durch Hunger zu Tode kamen. Aber nicht immer gibt es ernsthafte Hintergründe für seine selbst geschossenen Schnappschüsse. Mal ironisch, mal frech erzählt er von der Flüchtigkeit des Augenblicks, wobei seine Sprache immer vor Virtuosität und Leidenschaft sprüht. Manche der Mikroromane könnte man sich als Ausgangssituationen ganzer Romane vorstellen.

„Indem hier einer sein Leben zur Sprache bringt und Szenen und Augenblicke daraus mit Schnappschüssen sichtbar macht, befreit er sich von der Last der Erinnerung und verwandelt einen erschöpften Touristen oder einen aus Neugier und Fernweh erfüllten Reisenden in einen gelassenen Erzähler“, heißt es im Klappentext zum Buch.

Der Ich-Erzähler nennt sich Lorcan, womit sich Ransmayr vom eigenen Ich abgrenzen kann und sich so den Freiraum schafft, seine Gedanken auch einmal über den konkreten Augenblick in die Fantasie, in Träume und Ängste abgleiten zu lassen. Der Titel der Geschichtensammlung „Egal wohin, Baby“ - ein Graffiti, das er am Ingolstädter Bahnhof entdeckt hat, ist für ihn zunächst ein Rätsel: „..hatte ein gelassener Philosoph?, ein Prediger?, ein Verliebter?“ den Spruch hinterlassen? Später entscheidet er sich für die Liebeserklärung: „Einen Menschen egal wohin begleiten zu wollen, an einen tropischen Küstenstrich ebenso wie in den Staub industrieller Kohlehalden, in die Eisregion bis in den Tod, war mehr als jeder andere Schwur versprechen konnte“.

Und genau in diese unterschiedlichsten Welten nimmt Ransmayr seine Leser mit und zeigt damit aufs Neue, welche unglaublichen Fähigkeiten Literatur besitzt. Gleichzeitig erlebt man ganz persönlich, welche Beobachtungsgabe und sprachliche Kunstfertigkeit der Autor besitzt. Ausgehend von seinen wie in einem klassischen Bilderbogen angeordneten Fotografien, verwandelt Christoph Ransmayr Bilder und Erfahrungen seines Globetrotter-Reiselebens in Sprache und damit in ein weltumspannendes, farbenprächtiges Leseabenteuer. Nicht immer braucht es 300 Seiten, um eine in sich geschlossene Geschichte zu schreiben. Denn von Expeditionen in die Augenblicke der Wirklichkeit und in die Uferlosigkeit der Phantasie kann auch in wenigen Zeilen erzählt werden.

Christoph Ransmayr: Egal wohin, Baby, S.Fischer-Verlag, Frankfurt, 2024, 256 Seiten, 28 Euro.

Schon häufig hat sich der niederländische Schriftsteller und Filmemacher Leon de Winter, 1954 in Hertogenbosch als Sohn holländischer Juden geboren, an den brisanten Debatten zum unendlich lange andauernden Nahostkonflikt beteiligt. In seinem aktuellen Roman „Stadt der Hunde“ versteckt er ganz aktuelle Geschehnisse aus der Region mit hoher Erzählkunst in eine virtuose Parabel über Liebe, Verlust, Hoffnung und den verschlungenen Weg im Labyrinth des Lebens.

Mit der „Stadt der Hunde“ ist die israelische Küsten-Metropole Tel Aviv gemeint, in der augenscheinlich jedes junge Paar mindestens 5 Kinder oder drei Hunde besitzt, die tagsüber auf dem Rothschild-Boulevard spazieren geführt werden. De Winter erzählt von dem pensionierten Gehirnchirurgen Jaap Hollander, der jedes Jahr nach Israel und in die Negev Wüste reist, seit dort seine Tochter gemeinsam mit einem Freund mit 18 Jahren verschwunden war. Alles schien auf ein Verbrechen hinzudeuten, aber Jaap konnte die Hoffnung, seine geliebte Tochter irgendwie doch noch zu finden, nie begraben. „Jaap weigerte sich zu akzeptieren, dass Lea tot war. Er reiste nicht mehr so häufig in die Wüste, aber noch immer regelmäßig. Diejenigen, die schon zur Zeit von Leas und Joshuas Verschwinden dort gelebt hatten, wussten, wer er war und was er dort machte.“

Als er zum 10jährigen Jubiläum des Verschwindens wieder nach Israel reist, bekommt er ein scheinbar unfassbares Angebot. In seiner aktiven Berufszeit als Gehirnchirurg war er ein international gefeierter Star in seinem Metier. Stets wurde er gerufen, wenn ein Fall schier aussichtslos schien. Er war das Genie mit den sensibelsten Fingern. Er soll eine Milliarde Euro erhalten, wenn er das Leben einer heiß geliebten Tochter eines saudischen Prinzen retten kann. Man hatte im Nahen Osten von seiner außerordentlichen Begabung gehört, und man erwartete von ihm, das er das erreichen könnte, woran sich bis dato kein anderer Arzt gewagt hatte: eine Operation am Gehirn des Mädchens. Dort würde eine Missbildung von kaum zugänglichen Gefäßen ohne eine Operation bald zu ihrem Tod führen. Der pensionierte Hirnchirurg Jaap Hollander ist ihre letzte Hoffnung.

Schnell wird klar, dass es sich um einen schier unmöglichen Auftrag mit nicht abschätzbaren Folgen für ihn selbst, aber auch für die gesamte Region handeln dürfte. Allein die Vorbereitung im diplomatischen Geflecht der politischen Lage entwickelt sich dramatisch. Die Regierung in Israel wird eingeschaltet und eine Vermittlerin beauftragt - es ist klar, dass es hier nicht nur um das Überleben oder Sterben einer Patientin geht, sondern um Krieg und Frieden. Selbst sein eigenes Leben dürfte beim Scheitern der Operation in Gefahr sein, glaubt Jaap. Außerdem muss sein persönliches OP-Besteck aus den Niederlanden eingeflogen werden und er will „.. einen Vertrag. 3 Millionen. Für einen saudischen Prinzen sollte so ein Betrag doch kein Hindernis darstellen, oder?“ Rina sagte: „So viel verdient er pro Stunde, meine ich. Er hat übrigens einen höheren Betrag ausgeschrieben.“ „Mehr als drei Millionen?“ „Ich bin befugt, es ihnen mitzuteilen, der Ministerpräsident ist einverstanden. Tausend Millionen Dollar. Eine Milliarde“. Die beteiligten Personen sind unschwer als Prinz Salman, dem heimlichen Herrscher von Saudi Arabien und Präsident Netanyahu von Israel zu erkennen.

Gleichzeitig erzählt Leon de Winter die Lebensgeschichte des genialen Hirnchirurgen, der privat eher ein Möchtegern-Draufgänger war, einer der mal aussah wie Al Pacino und die Damenwelt in seinem Krankenhaus zu betören versuchte. Auch zu seiner vermissten Tochter war das Verhältnis eher nicht besonders eng, wurde aber für ihn selbst nach ihrem Verschwinden immer wichtiger. Dann taucht auch noch ein geheimnisvoller Hund auf in dieser besonders komponierten Geschichte zwischen knallharter Realität, Dramatik und Phantasie. Denn nach einem Unfall von ihm selbst muss Jaap in Israel gleichfalls am Gehirn operiert werden, wobei er tagelang zwischen Leben und Tod, Realität und Illusion wandelt.

Als Leser oder Leserin weiß man bei Romanen von Leon de Winter nie so genau, worauf die Geschichten hinauslaufen, Nichts ist vollständig erklärt und ausbuchstabiert. Jeder soll sich selbst seine Gedanken machen und gemeinsam mit dem Autor überlegen, welche Absurditäten und Absonderlichkeiten das Leben für uns bereit hält.

Leon de Winter: Stadt der Hunde, Diogenes Verlag, Zürich, 2025, 272 Seiten, 26 Euro.

Zu guter Letzt habe ich noch einen Krimi, der als Komödie mit abstruser Gewalt, einem äußerst vielseitigen und gewieften Ermittler und jeder Menge skurrilem Humor daher kommt. Geschrieben wurde die Story vom Autor Gerhard Henschel, der zuletzt 2023 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor einheimsen konnte. Dazu hat sein Verleger selbst eine 5-Sterne-Residenz, das Hotel Hohenhausen in Herleshausen-Holzhausen nahe der Werra, wo Hentschel häufig eingeladen war und welches ihm jetzt als Schauplatz seines schrägen Krimis dient. In dem Rittergut aus dem 16. Jahrhundert mit angeschlossenem Schloss und Gourmet-Restaurant versammelt sich eine seltsame Melange an Besuchern. Der Zweck der Zusammenkunft ist sowohl ein Treffen der internationalen Bob-Dylan-Anhängerschaft, den sogenannten Dylanologen, sowie einer gleichzeitig stattfindende Versammlung der Anhänger von dem speziellen Schriftsteller Arno Schmidt.

So nimmt es nicht Wunder, dass Hentschel, der selbst eine Autobiografie über den legendären Musiker verfasst hat und sich in den vertrackten Texten des skurrilen Schriftstellers aus der Heide bestens auskennt, diverse Anspielungen auf Songtexte und Zettelzitate in die Geschichte einfließen lässt. Die Hauptfigur, der Berliner Anwalt Michael Ritz entpuppt sich nicht nur als blitzgescheiter Anhänger dieser beiden, sondern beweist im Laufe der Handlung diverse hochkarätige Fähigkeiten. Sei es in der Pilzkunde mit der Freude an „Flockenstieligen Hexenröhrlingen und Buchenschleimrüblingen“ oder als Fachmann für Fledermäuse, Käfer und allerhand anderes Getier, wie zum Beispiel der Zahn-tragenden Höhlenassel. Gleichzeitig besitzt er natürlich Führerscheine für alle Klassen, wie auch für das Angeln, ist nicht nur fanatischer Anhänger von Bob Dylan, sondern auch Burgen-Fachmann, Kletterer, Judoka und Kajakfahrer mit ehemaligen Olympia-Ambitionen.

Auch seine späteren kriminologischen Helfer*innen verweisen auf andere Genres und Querverweise aus Literatur, Film und Wissenschaft. Als Hommage an Astrid Lindgren tauchen ein über 90-jähriger Schwede namens Kalle Blomquist mit seiner Frau Eva-Lotta und Gefährten auf. Aus der britischen 90er-Jahre Krimi-Serie „Für alle Fälle Fitz“ ist Jane Penhaligon aus Manchester mit ihrem Rottweiler dabei, der hauptsächlich dafür sorgt, dass ein selbsternannter Adeliger mit vielerlei Uniformen und Orden aus aller Welt sich häufig auf der Flucht in hohen Bäumen wiederfindet. Und natürlich wird im Gourmet-Restaurant ausgiebigst geschlemmt und die besten Weine und Schnäpse probiert. Man könnte aus dem Roman auch eine exquisite Rezept-Sammlung machen. Vom Tatar von geräuchertem Störfilet über das Kotelett vom Datteröder Wollschwein oder das Bratwurstgeschnetzelte mit Gurken-Salsa und karamellisierten Cashewnüssen bis zu Erdbeerkrapfen und zum steingutgelagerten Meisterwurzschnaps bleibt kein kulinarischer Wunsch unerfüllt.

Aber worum geht es eigentlich im mörderischen Kriminalfall? Zunächst taucht bei der Dylanologen-Tagung eine Leiche an der Gitarre, des als Statue gefeierten Musikers auf. „Der Gitarrenhals ragte zum Himmel, und ganz oben, am Gitarrenkopf, klebte eine Leiche mit der Nase fest und baumelte herunter.“ Es folgen seltsame Todesfälle, die allesamt in Richtung von katholischen Fundamentalisten deuten. Es geht viel um historische Hexenverfolgung, Folterungen und regionale Bräuche in alten Burgruinen.

Aber eigentlich ist die Mörder-Geschichte eher Nebensache, denn Hentschel lässt sich weitschweifig über seinen Lieblingsmusiker aus, der sogar am Ende ein Benefiz-Konzert in der Konzertscheune des Anwesens gibt, natürlich mit Anwalt Ritz an der Gitarre. Wobei er vorher mit seinem Tour-Bus auch noch einen der Missetäter auf der Flucht zur Strecke bringt.

Ein herrlich absurder Krimi mit unzähligen Querverweisen, unverschämt leckeren Speisen und Getränken und einem Helden, dem nichts zu schwer fällt - ganz wunderbar und nicht nur für Dylan-Fans und Schmidtianer.

Gerhard Hentschel: Mord auf Hohenhaus - Ein Schlosshotel-Kriminalroman, Hoffmann und Campe, Hamburg, 2025, 192 Seiten, 18 Euro.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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