Joshua Bell, Foto: (c) Shervin Lainez

Muk Lübeck
NDR Elbphilharmonie Orchester – Romantisches und was daraus wurde

Zum vierten Konzert (20. Januar 2024) gab sich das Elbphilharmonie Orchester wieder selbst die Ehre und das mit einem Programm, das ihm alle Ehre machte. Es war eines, das im ersten Teil tief in die romantische Ausdrucks- und Gestaltungswelt eintauchte und im zweiten Teil aufzeigte, wie ein Komponist in einem groß angelegten Instrumentalwerk die sensible Klangwelt der Romantik weiterführte.

Aber nicht nur dieser Aufbau machte das Konzert besonders, es waren im ersten Teil gleich zwei Werke dabei, in der die Violine Hauptperson war, das eine ein Konzert für dieses Instrument, das andere eine Komposition, die ein Konzert hätte werden sollen. Für die Interpretation beider hatte das Orchester seinen „Artist in Residence“ mitgebracht, den amerikanischen Geiger Joshua Bell, der 1967 in Indiana geboren wurde. Bereits als 14-Jähriger trat er mit dem Philadelphia Orchestra auf und hält sich seit mehr als drei Jahrzehnten als einer der besten Geiger an der Weltspitze.

Gleich zwei außergewöhnliche Kompositionen stellte er vor. Sinnvollerweise hatte man im ersten Teil die zunächst angezeigte chronologische Reihenfolge aufgegeben und Ernest Chaussons (1855-1899) „Poème“ als Eingangsstück gewählt. Er war einer der bedeutenden französischen Komponisten kurz vor der Jahrhundertwende, traute sich aber das gewünschte Werk nicht zu, das sich der ebenfalls komponierende Violinvirtuose Eugène Ysaÿe von ihm erbat. Stattdessen lieferte er 1896 eben jenes Poème, ein Charakterstück von melancholischer Grundstimmung, mit aber einer großen Aufgabe für den Geiger. Wenn nach der dunklen orchestralen Einführung das Soloinstrument eine zunächst einstimmige Kantilene entfaltet und deren Ende zweistimmig fortgeführt wird, spürt der Zuhörer, was der Solist trotz des ruhigen Grundmaßes zu bewältigen hat. Das Poème ist ein wahrlich poetisches Werk von 17 Minuten Dauer, das Joshua Bell in wunderbar geschlossener und feinsinniger Form mit dem Orchester darbot.

Das 35 Jahre vorher entstandene dreisätzige a-Moll-Violinkonzert von Henri Vieutemps (1820-1881) dauert nur wenige Minuten länger. Es ist zwar in klassischer Form mit einem schnelleren Kopfsatz gestaltet, dem ein Adagio und schließlich ein Allegro con fuoco folgt, wird aber ohne Pause ausgeführt. Auch wenn es ungemein virtuose Partien aufweist, ist Vieutemps Komposition doch von erstaunlicher Dichte und verlangt im Zusammenspiel dem Orchester mehr als nur begleitende Beigaben ab. Dadurch entsteht ein sehr geschlossenes Miteinander, das diesem Konzert des weltreisenden Komponisten seinen komplexen Reiz gibt. Vieutemps äußerst bunte Biografie führt ihn auf viele Reisen durch Europa, wobei ihn u.a. Robert Schumann und Robert Spohr zu schätzen lernten. Mit 17 Jahren brach er nach Russland auf und mit 23 Jahren führte es ihn mehrmals durch Amerika. Seine ihn dorthin begleitende Pianistin gab er als seine Schwester aus, erst später heirateten sie.

Joshua Bell hatte also wieder eine sehr dankbare Komposition zu gestalten, deren vielseitige und kunstfertige Ausführung das Publikum begeisterte. Als Dank für den Beifall spielte er als Zugabe das Nocturne cis-Moll von Frédéric Chopin. Das romantische Klavierstück war reizvoll für Violine und Harfe bearbeitet, bei dem Anaëlle Tourret, die Harfenistin aus dem Orchester, den begleitenden Part übernahm. Es wurde ein wahres Abendständchen.

Ryan Bancroft, Foto: (c) Ben EalovegaRyan Bancroft, Foto: (c) Ben Ealovega

Im zweiten Teil war nun Ryan Bancroft, der junge, 1989 in Kalifornien geborene Dirigent, allein für die Wirkung verantwortlich. Seit September 2023 ist er Chef des Royal Stockholm Philharmonic Orchestra und hatte hier nun Alexander (von) Zemlinskys „Die Seejungfrau“, ein äußerst üppiges Werk, zu gestalten, dessen Vorlage das Märchen von Hans Christian Andersen ist. Das Tongemälde hatte den Untertitel „Fantasie für großes Orchester“, für dessen Aufführung knapp 100 Musiker aus Hamburg anreisen mussten.

Mit geheimnisvollen tiefen Klängen beginnt das Spiel, dem dann glitzernde Klangspiele aufgesetzt werden. Es dient, eine Wasserwelt zu imaginieren, die mit mythischen Wesen belebt ist und für die Zemlinsky, Freund, Lehrer und Schwager von Arnold Schönberg, eine opulente Tonwelt schuf. Sie beeindruckt durch ungewöhnliche harmonische Wendungen und instrumentale Farben. Der dramatische Märchenkreis um Undine bildet die Grundlage und wird von Zemlinsky in drei klanggewaltigen Episoden nachgezeichnet. In der ersten ist das Märchengeschehen bis hin zur Rettung des Prinzen nachzuhören. Schon hier ist der Satzschluss mit seinem glücklichen Ende so plastisch, dass es das Publikum zum Beifall veranlasste. Es sei entschuldigt, da an diesem Abend die Programmhefte fehlten, die angezeigt hätten, dass es sich um ein mehrsätziges Stück handelt. Noch mehr verführte der Mittelsatz nach der breiten Hochzeitsszene zu heftigem Beifall. Dieser Mittelsatz endete zunächst sehr ruhig, aber nach einer Generalpause mit lautstarken, effektvollen Orchesterschlägen. Der dritte Satz schließlich, der auch harmonisch kühnste, scheint die Metamorphose der Seejungfrau zu einem Meergeist zu malen. Das Publikum spendete jetzt für die musikalische Breitwandwirkung den verdienten Schlussapplaus.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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