Düster ging es bei der neuesten Premiere (9. Mai 2025) zu. „Lucia di Lammermoor“, Gaetano Donizettis Streifzug durch die von Walter Scott aufbereitete schottische Sagenwelt, war inszeniert worden. Jeder kennt die Oper als die mit der Wahnsinns-Arie‘, auf die jedoch lange gewartet werden muss. Erst im dritten und letzten Akt, nach viel Bosheit, Neid und Machtmissbrauch erklingt sie, und da erst entscheidet sich die Sicht auf Lucia, auf die Frauengestalt, die der Oper den Namen gegeben hat. Ist sie nun eine Blutrünstige oder eine Wahnsinnige oder von beidem etwas? Anna Dreschers Inszenierung forderte auf, an beidem zu zweifeln.
Düster beginnt Donizettis Oper auch musikalisch. Schwere und lähmende Akkorde deuten auf bitteren Verrat und Verzweiflung, auf Leiden und unüberwindliche Spannungen hin. Trotzdem hebt sich in Lübeck der Vorhang während des Vorspiels um einen Spalt und fordert auf, zwei barfüßigen und in fließenden roten Kleidern umhertollenden jungen Frauen mit den Augen zu folgen. Der Zuschauer ahnt, dass es ein kleiner Bereich im Park von Schloss Ravenswood ist, den Lucia und ihre Kammerzofe Alisa mit Leben füllen. Sie genießen die Natur, bewerfen sich mit Herbstlaub, umarmen voller Glück Bäume oder jagen sich neckisch um fünf mächtige Stämme.
Jacob Scharfman (Enrico Ashton), Foto: Olaf Malzahn
Öffnet sich der Vorhang zum ersten Bild ganz, erkennt man hinter der Baumreihe eine hohe, dunkle Tribüne, auf ihr die Suchmannschaft, die Lucias Bruder Enrico ausschickte, ausgerechnet Edgardo zu fangen, Lucias sehnlich erwarteten Geliebten, nur Feind des Bruders. Einst hatte er Ravenswood besessen. Den Eindruck, den Enricos Truppe macht, muss sogar der Zuschauer verdauen. Die Horde steht, schwarz gewandet und mit Geweihen auf den Köpfen, sich leicht schüttelnd mit dem Rücken zum Publikum, bewegt die Hände wie reibend vor dem Körper. Drehen sie sich um, ist zu erkennen, dass sie ihre Waffen wienern. Gleichzeitig beobachten sie die beiden Frauen, so dass Speere oder Gewehre zu dem werden, was sie oft schon gewesen sind, ein Phallussymbol. Ihr Starren auf die jungen Frauen kann sexuelle Gier nicht verbergen.
All das fördert die Spannung zwischen Bruder und Schwester, zumal das Libretto von Salvadore Cammarano noch ein paar Spannungselemente mehr parat hat, die Gaetanos musikalische Einfälle auch heute noch reizvoll machen. Der Versuch Edgardos, eine Versöhnung mit Enrico herbeizuführen, gehört dazu und das Versprechen ewiger Treue der Liebenden. Doch erreicht Enrico, mit intriganten Unterschlagungen und bösem Druck Lucia an Lord Arturo Bucklaw zu „verkaufen“, womit er die „Familie“ (oder sich) finanziell zu retten plant.
Sophia Theodorides (Lucia Ashton), Ensemble, Foto: (c) Olaf Malzahn
Ihr wird (Kostüme: Tatjana Ivschina) für das Hochzeitsevent ein Kleid mit einer riesigen Schleppe angepasst, das sie nicht nur psychisch, auch physisch quält. Mit dessen Hilfe wird der Zwang, den sogar Edgardo ansehen und missverstehen muss, sinnlich inszeniert, wenn der Bruder die Schwester zunächst bis auf die Unterwäsche entkleidet, dann in das prachtvolle, einengende Brautkleid zwängt. Dessen Schleppe ist so groß, dass mehr als die Hälfte der Tribüne, wohin der Bruder sie treibt, bedeckt ist. Sie erlaubt Lucia auf den steilen Stufen nur mühevolle Bewegungen. Aus unangenehmer Nähe muss die aufgezwungene Hochzeitsgesellschaft sehen, wie sie unter dem Textilberg kaum atmen kann. So wandelt sich die Tribüne, die im ersten Akt noch einer eines Vorlesungssaals ähnelt, im zweiten zu einer, auf der geifernde Gaffer mit einer Zurschaustellung bedient werden.
In der Art, wie das Stufengebilde in dieser Inszenierung eingesetzt wird, hat es die Kraft, Gesangs- und Darstellungskunst zu erleichtern, selbst die herausfordernde Wahnsinns-Arie, weil sie stark konzentriert, auch Distanz schafft. Nach dem Anfang im dritten Akt, wo sich Bruder Enrico und der abgewiesene Edgardo dramatisch befehden, konzentriert sich durch das jähe Ende der Hochzeitsnacht alles auf Lucia, die hier nicht blutverschmiert auftritt, sondern in einem blütenweißen Nachtgewand. Erst wenn ihre innere Erregung steigt, sickert Blut die Beine hinab und aus dem Rock, verbreitet sich, bis sie mit ihm sogar ihr Gesicht grotesk verzerrt. Nicht sie steht vor einem Tribunal, sie stellt ihre Umgebung vor eines. Aber die Regie geht noch weiter. Sie lässt Lucia nicht sterben. Bis zum Schluss sitzt sie unmittelbar an der Rampe auf einem Stuhl, eine Fratze ihrer selbst. Auch Edgardo kann sie nicht mehr erreichen. Seine Selbsttötung bekommt damit eine andere Bedeutung.
Sophia Theodorides (Lucia Ashton), Chor, Foto: Olaf Malzahn
Die musikalische Stärke von Donizettis Musik vermochten die Sänger, das Orchester und der Chor eindringlich zu gestalten. Vor allem die Kraft von Sophia Theodorides als Lucia, das ungewöhnliche Inszenierungsende durchzuhalten, war bewundernswert. Mühelos klang ihr Koloratursopran in allen Stimmungen. Wie sie anfangs Hoffnung, Freude und Zuneigung, dann die Enttäuschung des Verrats an ihr artikulierte, um in der großen Arie alle Register des Ausdrucks zu ziehen, wird wohl selten so eindrucksvoll zu erleben sein. Dass das Theater ihr noch die von Donizetti gewünschte Glasharmonika zur Begleitung gab, war überraschend faszinierend.
Die beiden Kontrahenten Enrico und Edgardo gestalteten sehr lebendig Jacob Scharfmann und Konstantinos Klironomos. Der Klang des straffen Baritons von Scharfmanns passte gut zu seiner kalten Haltung seiner Schwester gegenüber und vor allem Edgardos Gefühlsgebundenheit. Dessen Timbre in seinem farbigen Tenor passte wiederum gut ins Gefüge mit Lucia, konnte sich auch gegen Enrico behaupten und dem etwas helleren Tenorklang des Arturos, den Noah Schaul Tenor übernommen hatte. Neben dem schönen, zugleich kräftigen Mezzo von Delia Bacher als Alisa stach bei den kleineren Rollen wieder der voluminöse Bass von Changjun Lee als Raimondo heraus, ein Sänger aus dem Opernelitestudio wie auch der helle Tenor Wonjun Kim als Normanno.
Konstantinos Klironomos (Edgardo di Ravenswood), Changjun Lee (Raimondo Bidebent), Jacob Scharfman (Enrico Ashton), Foto: Olaf Malzahn
Bei Takahiro Nagasakis Dirigat fiel die Ruhe auf, mit der er Subtiles herausarbeitete und die Sänger unterstützte. So wie das Philharmonische Orchester wünscht man sich ein begleitendes Orchester bei einer Oper, in der Gesang im Vordergrund steht. Es bleibt noch der Chor zu erwähnen, den Jan-Michael Krüger wieder so sicher einstudiert hatte, dass er all die vielseitigen schauspielerischen Aufgaben bewältigen konnte.
Fotos: Olaf Malzahn