Sonderveranstaltungen wie diese am 7. Mai 2025 sind selten. Als „musikalisches Spiel mit dem Absurden“ angekündigt, trägt es den scheinbar leicht zu deutenden, doch gleichzeitig merkwürdigen Titel „Charms“.
Die Pluralform englischer Liebenswürdigkeit bietet sich als Erklärung an, zumal sie deutsch lautlich gleich klingt. Doch seit 2011 zwingt uns der Duden den deutschen Scharm ohne „S“ vorne zu schreiben, dafür mit einem „e“ hintendran. Das nötigt zugleich, etymologisch eine neue Generation helfen zu lassen. Denn mit Charms bezeichnen unsere Enkelinnen kleine, glitzernde Kettenanhänger. Sie illustrieren tatsächlich recht gut das, was in Lübecks Kammerspielen zu erleben war, eine lockere Folge von gesprochenen oder gesungenen Preziosen. Aber nichts aus dem allgemeinen Sprachgebrauch hilft dem Erklärung Suchenden wirklich. Charms ist einfach ein Nachname, dem Daniil als Vorname dient. Beides gehört dem in Sankt Petersburg geborenen Schriftsteller und Dichter, der sich Daniil Charms nannte, eigentlich Daniil Iwanowitsch Juwatschow hieß, der zudem viele weitere Pseudonyme für sich erfand.
Leon Gurvitch und Svetlana Mamresheva
Für dieses Versteckspiel könnte seine Heimatstadt Vorbild sein. Auch sie wechselte seit Charms Geburt 1905 in Sankt Petersburg bis zu seinem Tode 1942 zweimal den Namen. Von 1914 bis 1924 hieß sie Petrograd, wurde dann bis 1991 Leningrad, um – blicken wir weiter – dann zu ihrem ersten Namen zurückzukehren. Als Daniil Charms 1942 starb, war das doch seine Geburtsstadt, eine Stadt, die zu der Zeit unvorstellbar litt. So gilt Unterernährung als mutmaßliche Ursache für Charms frühes Ableben, der sich aus politischen Gründen schon länger in einer Irrenanstalt versteckt hatte. Er ist somit eines der erschreckend vielen Opfer der Leningrader Blockade, der unmenschlichen Anmaßung von Hitlers nationalsozialistischer Machtgier.
Prosa, Gedichte, Theaterstücke, Anekdoten, Märchen, Dialoge, Kurz- und Kürzestgeschichten sowie Tagebucheinträge, Briefe und Zeichnungen enthält das, was von Charms literarisch überliefert ist. Das verrät der Wikipedia-Artikel über den Wortartisten, für den „die Kürze seiner Texte“ charakteristisch ist. Eine Auswahl daraus zu treffen, ist sicher nicht leicht, weil das verspielte, assoziative Gefüge von Charms Oeuvre nur schwer Zusammenhänge oder Entwicklungen herstellen kann, die Stoff für eine Oper ergeben. Dennoch hatte der seit 2001 in Hamburg lebende Komponist Leon Gurvitch (*1979 in Minsk) aus ein paar wenigen Prosatexten und mehreren Gedichten 2013 ein Werk zusammengestellt, das er „Kammeroper“ nannte. Als „Orchester“ gab er dem Klavier noch Klarinette (Christian Seibold) und Violine (Andre Böttcher) als Partner. Zur Abwechslung traten Saxophon oder Melodica, auch ein paar Geräuschinstrumente auf.
Leon Gurvitch und Svetlana Mamresheva
Gurvitch saß selbst am Klavier, begleitete sich und die Sopranistin Svetlana Mamresheva (*1988 in der ehemaligen UdSSR) bei Duetten und Dialogen. Seine Musik unterstreicht den teils skurrilen, teils nachdenklichen oder auch satirisch-komischen Charakter von Charms Dichtung, wenn er etwa von „einem müden Tiergähnlaut“ spricht oder Morgenstimmung mit „Moos erhebt den Hirsch und weht“ beschreibt. Die Texte wie „Ich habe ein sehr interessantes Buch gelesen“ und Dialoge wurden deutsch gelesen, die meisten Lieder aber in russischer Sprache.
Auf dem Programmzettel findet sich eine Passage aus einem Text Charms, die beim Hören half: „Mich interessiert nur der ‚Quatsch‘; nur das, was keinerlei praktischen Sinn hat, … das Leben nur in seiner unsinnigen Erscheinung. Heroismus, Pathos, Schicksal, Moral, hygienisch Reines, Sittlichkeit und Glücksspiel – sind mir verhasste Wörter und Gefühle. Dagegen begreife und achte ich zutiefst: Entzücken und Begeisterung. Inspiration und Verzweiflung, Leidenschaft und Beherrschung, Laster und Keuschheit, Kummer und Leid, Freude und Lachen.“ Eines wird daraus klar, dass es viel über ihn zu wissen gäbe, was ein Liedbeginn so andeutet: „Ich kann nicht fließend denken - vor Angst. Sie durchschneidet mein Denken wie ein Strahl.“
Christian Seibold (Klarinette), Leon Gurvitch (Klavier), Svetlana Mamresheva (Gesang), Andre Böttcher (Violine)
Das sind Äußerungen eines Menschen, der in der Stalin-Ära gelitten hat, dessen literarisches Werk im Kampf gegen eine brutale Macht verlieren musste. Von Ferne erinnert Charms Leben und Schicksal an den in Lübeck aufgewachsenen Erich Mühsam, auch er ein Opfer der Nationalsozialisten, nur schon 1934 im KZ Oranienburg. Man könnte Gurvitchs Werk als eine musikalisch vermittelte Einführung in das Werk und das Denken des Sprachkünstlers Charm verstehen. Die Musik erläutert beides. Sie ist trotz vieler Dissonanzen und motorischer Unruhe zupackend, durch harmonische Farbigkeit und sensible formale Gestaltung abwechslungsreich, zugleich verständlich. Zudem unterstützen und gliedern die Passagen in ihrer Faktur die Texte, von denen nur wenige übersetzt waren. Aber alle waren inhaltlich zu verfolgen, da sie übersetzt auf der Übertitelungsanlage präsent wurden.
Nur wenige Besucher hatten in Lübeck den Weg in die Kammerspiele des Lübecker Theaters gefunden, um die höchst lebendige, mit wenigen äußeren Mitteln auskommende „Kammeroper“ zu erleben. Schade.