Das übliche Programmschema war auch bei dem letzten NDR-Konzert in dieser Saison eingehalten (6. Juni 2025): Dem kleinen Ohrenschmeichler zu Beginn folgte etwas Konzertantes und im zweiten Teil ein eher anspruchsvolles Werk, zumeist ein sinfonisches. So weit, so gut. Doch diesmal hatte der Sender sich selbst übertroffen. Zum einen bot das Programm drei herausfordernde, nicht alltägliche Werke. Zum anderen traten gleich drei Solisten auf, alles geleitet von einem Dirigenten, für den es die erste Begegnung mit den Elbphilharmonikern war.
Zur Einstimmung diente eine Komposition von immerhin 20 Minuten Dauer, Maurice Ravels Suite „Ma mère l’oye“, eine Komposition, die es in mehreren, zwischen 1908 und 1911 entstandenen Fassungen gibt. Die an diesem Abend gebotene orchestrale Version umfasst fünf Charakterstücke, im Wesen Programmmusiken, die Märchenhaftes musikalisch einfangen. Die beiden ersten Sätze, „Pavane de la belle au bois dormant (Dornröschens Pavane)“ und „Petit poucet (Der kleine Däumling)“ verraten bereits, wo Ravel sich inspirieren ließ, inhaltlich und vom Titel her. Es war die 1697 erschienene Märchensammlung „Contes de ma mère l’Oye“ von Charles Perrault. Sie wurde über Frankreich hinaus bedeutsam, wie es die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderten deutschen Fassungen der Brüder Grimm oder Ludwig Bechsteins belegen.
Foto: Hildegard Przybyla
Das ist ein schöner Beweis poetischer Gemeinsamkeit in Europa, an die der französische Dirigent Louis Langrée offenbar anknüpfte – und das nicht nur hier. Von ihm ist im Programmheft zu lesen, dass sein Staatspräsident Emmanuel Macron ihn 2021 zum Direktor des staatlichen Théâtre national de l’Opéra Comique ernannte. Jetzt war er, obwohl schon vielfältig in verschiedenen Ländern tätig, erstmals beim NDR eingeladen und hatte ein Programm einstudiert, das vielerlei Gemeinsames, vor allem Kulturelles aus Frankreich und Deutschland aufwies. Dass dies ein bewusster programmatischer Schachzug war, sei vermutet. Immerhin sind Dornröschen und der Däumling wie auch die Bezüge in den drei weiteren Sätzen international bekannt geworden und von Ravel in der Suite vereint, die er groß und großartig orchestrierte.
Was dem Zuhörer da als Ensemble gegenübersitzt, klingt vor allem in den beiden Miniaturen zu Beginn äußerst zart, wenn zunächst Dornröschen vom leisen Schnurren eines Spinnrads träumt oder der Däumling, hin und her huschend, die Brotkrumen sucht, mit denen er seinen Rückweg markieren wollte. Erst die drei folgenden Sätze werden bunter, führen in das klanglich eigenwillige China, dann zu der gespenstischen Zwiesprache der verzauberten Schönen und des Biests („Les entretiens de la belle et de la bête“) und schließlich in einen amönischen Raum, der sich in geheimnisvollen Harfen- und Celestaklängen entfaltet, wahrlich ein akustischer Feengarten („Le jardin féerique“)!
Foto: Hildegard Przybyla
In großen Linien und ohne Stab führte Langrée das aufmerksame Orchester durch die feinsinnige, in Teilen filigrane Partitur Ravels, wie er es auch bei Mozarts „Sinfonia concertante“ für Violine und Viola Es-Dur KV 364 machte. Sie folgte im Programm, und ihre Wiedergabe wurde zum Zentrum des Konzertes. Wie der Dirigent das Orchester mit den zwei Solisten vereinte, die im Spieltemperament und in ihrer Leistungsfähigkeit durch ihr besonderes Können hervorstachen, zeigte große Souveränität und wirkte in jeder Phrase selbstverständlich. Klanglich kam noch hinzu, dass beide Solisten ein Instrument Stradivaris spielten. Wo kann ein Konzertbesucher das schon erleben?
Mozart hatte die Art, Solistisches und Sinfonisches zu verbinden, in Mannheim, dann auch in Paris schätzen kennengelernt und es in diesem Werk unvergleichbar schön für die beiden Instrumente angewandt, die er selbst grandios beherrschte. Hatte er damals als Zwanzigjähriger bei seiner Reise ähnlich begabte Solisten erlebt? Der NDR hatte Langrées Landsmann Antoine Tamestit eingesetzt, den Bratscher, der in dieser Saison als „Artist in Residence“ die Elbphilharmoniker bei unzähligen Auftritten intensiv kennengelernt hatte – und sie ihn. Er war auch im September 2024 beim ersten Saisonkonzert „dabei“. (Zur Erinnerung: Er spielte damals zusammen mit Alan Gilbert, dem Chef der Elbphilharmoniker, Bachs 6. Brandenburgisches Konzert und die äußerst virtuose „Kammermusik Nr. 5“ für Viola und Kammerorchester.) Als Geiger kam der schon als „Jascha Heifetz unserer Tage“ bezeichnete Kanadier James Ehnes, auch er in dieser Saison ein Artist in Residence, in Melbourne. Was beide Solisten vereinte, war die hör- und sichtbare Freude am Instrumentalen wie die gleiche Auffassung von einer perfekten Phrasierung. Sie förderte eine ungemeine Homogenität in der Gestaltung, die gerade bei diesem Werk wichtig ist, das nicht vom Kontrast, sondern von der Geschlossenheit lebt.
James Ehnes und Antoine Tamestit, Foto: Hildegard Przybyla
So wurde die Wiedergabe zum besonderen Ereignis, das alle Musiker erfasste. Zu erleben war das im ersten Satz mit seinem majestätischen Gestus, wenn die Solisten mit ihrer Kantilene im Oktavabstand einsteigen, Akkordschläge ihnen später Initiativen zum Konzertieren geben, in dem das nahtlose Miteinander Ziel ist. Keiner der Partner dominiert. Das zeigt Mozarts Meisterschaft, jedem Instrument in seinem Rahmen eine ihm gemäße Ausdruckswelt zu geben. Das steigerte sich im ernsten Andante des zweiten Satzes, der einem melancholischen Gesang glich, zeitweise auch einem bedeutungsvollen Zwiegespräch. Und wenn schließlich im Presto des finalen Rondos die Stimmung langsam wieder in reine Lebensfreude zurückkehrt, erlebt der Zuhörer durch die rasanten Triolen zum Ende, dass dieses Werk Mozarts einzigartig ist. Es packt jeden, wenn es so stimmig interpretiert wird.
Schwer ist es, nach solch einem Gefühlssturm eine Zugabe zu finden. Das Duo der beiden Protagonisten war schön, war auch „Mozart“, wie der Bratschist verkündete, reichte aber naturgemäß in seiner kammermusikalischen Feinheit an das zuvor Erlebte nicht heran. Die Pause als zeitliche Distanz war dringend nötig, sich von Mozart zu lösen, zumal das folgende Schlusswerk dieses Abends und zugleich der Saison mit großer akustischer Wucht mitreißen wollte, äußerlich schon darin sichtbar, dass dem Dirigenten jetzt Stab und Podium bereitgestellt wurde.
Foto: Hildegard Przybyla
In seiner Zeit, fast 100 Jahre nach Mozarts Komposition, wollte Camille Saint-Saëns mit dieser c-Moll-Sinfonie, wegen zweier ungezählten seiner dritten und letzten, neue Wege gehen. Dem österreich-ungarischen Franz Liszt, der in Bayreuth starb, hatte er es gewidmet, aber in London 1886 uraufgeführt. So wurde es wieder zu einem Beispiel für europäische Musikkultur und ihrer Vielfalt von Erscheinungsformen. 37 Minuten bannt dieses „Orgelsinfonie“ genannte Werk, weil es vielerlei umfasst. Einmal ist da ein riesiges Orchester mit dreifach besetztem Holz und entsprechendem Blech, dem das im Konzertbetrieb ungewöhnliche Pfeifeninstrument, die Orgel, ebenso wie ein Klavier zusätzlich Klangwucht geben. Das zeigt, dass für Saint-Saëns nicht das Kircheninstrument im Vordergrund stand, sondern ihr besonderer „Sound“, würde man heute sagen. Auch wenn die musikalische Substanz aus einem Motiv sich speiste, das dem gregorianischen „Dies irae“ entnommen ist, dem mittelalterlichen Hymnus über das Jüngste Gericht, war es doch ein von wuchtigem Ernst geprägtes Werk, dennoch kein religiöses, das sich in einen Konzertsaal verirrte.
James Ehnes, Louis Langrée, Antoine Tamestit und die Elbphilharmoniker in der Lübecker MuK, Foto: Hildegard Przybyla
Der langanhaltende Schlussbeifall bestätigte den tiefen Eindruck, den das Publikum durch diese mitreißende, wegen des riesigen Aufwandes selten gespielten Komposition gewonnen hatte. Er bestätigte auch, dass der gewaltige Einsatz ankam, den der NDR mit dieser Aufführung geleistet hatte, mit seinem Orchester und dem Dirigenten zudem auch mit Thomas Cornelius als Organist und dritter Solist.