Wieder wurde Cornelius Meister, seit 2018 Generalmusikdirektor in Stuttgart, der große Retter in der Not. Schon in Bayreuth sprang er kurzfristig ein, als der eingeplante „Ring“-Dirigent erkrankte und Meister das Opern-Quadrupel von 16 Stunden Spieldauer kurzfristig übernahm.
Aber er war schon im Opernhaus, sollte eigentlich „Tristan und Isolde“ dirigieren, kannte die Tücken des Theaters, einen Teil der Sänger und die Orchestermusiker. Trotzdem ist so etwas eine außergewöhnliche Sache und, wie zu lesen ist, sehr gut gelungen. Da war die Situation jetzt, das erste Sinfoniekonzert der Elbphilharmoniker nach nur einer Verständigungsprobe zu retten (9. September 2022), vergleichsweise harmlos. Er war auch hier quasi „vor Ort“, in Scharbeutz, im Urlaub, musste sich dennoch in das fremde Programm einarbeiten, eines das Alan Gilbert krankheitshalber nicht verwirklichen konnte, und musste sich mit einem Orchester arrangieren wie das mit ihm.
Dennoch werden die Musiker Meister gedankt haben, dass er das vorgesehene Programm übernahm. Solche Situationen bringen zumeist Programmwechsel, vor allem bei einem wie das dreisätzige Bratschenkonzert a-Moll des Engländers William Walton (1902 – 1983). Unbekannt ist es, erstaunlich bei dem schmalen Angebot in diesem Genre. Aber so lebendig und feinsinnig wie sich der Franzose Antoine Tamestit des farbigen und leichtfüßigen Werks mit vitaler Gestik annahm, imponierte es heute wie damals, als es der deutsche Paul Hindemith uraufführte, selbst Komponist und versierter Bratscher.
Es muss eine merkwürdige Situation gewesen sein, denn sein Einfluss auf Walton ist im polyphonen Satz, häufig vom Tutti gespielt, auch in der Vorliebe für Quarten stark hörbar. Der erste Satz wirkt zunächst kontemplativ, findet dann im Mittelteil zu lebendigem, rhythmisch agilem Ausdruck, an dem der Solist sehr lebendig teilhat. Der zweite Satz ist mit seinem Scherzo-Charakter ein spritziges Stück Musik, an dem Solist und Orchester sich munter die Ideen zuwerfen. Im dritten Satz schließlich erhält das Soloinstrument zunächst vom Fagott einen Gedanken zugespielt, den es effektvoll weiterführt, bis der Solist in einer Epilog-Passage Raum bekommt, sein weich, dennoch lebendig und vor allem warm klingendes Instrument, eines aus der Werkstatt Stradivaris, noch einmal vorzuführen.
Quasi als Zugabe erklang John Dowlands „Flow, my tears, fall from your spring“. Das 1596 entstandene Lautenlied widmete Tamestit gleich zwei Verstorbenen, der Queen wie dem Pianisten Lars Vogt, der vor wenigen Tagen im Alter von nur 51 Jahren seinem Krebsleiden erlag. Berückend schön, zugleich trostreich schwebte die Melodie über einem Pizzicato-Satz der Streicher.
Und auch die Aufführung von Franz Schuberts 8. Sinfonie in C-Dur, „Die Große“ genannt, sollte „dem Andenken an den großartigen Pianisten, guten Freund und wunderbaren Menschen Lars Vogt“ gewidmet sein. Dem Orchester und seinem Chef würde er durch viele gemeinsame Konzerte „in ewiger Erinnerung bleiben“. Dies geht aus einer Beilage zum Programmheft hervor. Dass Alan Gilbert fehlen musste, wird dem Anliegen keinen Abbruch getan haben, denn das Zusammenwirken des Orchesters mit Cornelius Meister, der die Partitur auswendig beherrschte, brachte eine wunderbar inspirierte und lebendige Interpretation des groß angelegten Werkes.
Meister führte das Orchester sehr präzise und sicher durch die Partitur. Wieder war es zu spüren, dass das Orchester ihm ausgesprochen aufmerksam und genau folgte. Nur in ganz wenigen Momenten hatte man das Gefühl, dass noch nicht alle Absichten des Dirigenten umgesetzt waren. Da schienen leichte, federnde Akzente im dritten Satz beabsichtigt zu sein oder hätten einige Crescendi, vor allem im Finalsatz noch stärker ausgeformt sein sollen, wenn man des Dirigenten Zeichen richtig deutete. Anderes wie die melodischen Bögen oder die spannungsvollen Pausen wurden bewundernswert genau umgesetzt. Das war nach so spontaner Zusammenarbeit begeisternd. Da war Schuberts lebensbejahende Grundhaltung im ersten Satz, im zweiten die romantische Attitüde, der im dritten das fast übersprudelnd Tänzerische folgte. Im selbstbewusst auftrumpfenden Finalsatz schließlich, in dem Schubert sich nicht scheute, Beethoven heraufzubeschwören, an dem sinfonisch alles gemessen wurde, fand das Konzert einen überzeugenden Abschluss.
Das Publikum war begeistert.