Dirigent Marc Albrecht und die NDR Radiophilharmonie, Foto: Hildegard Przybyla

Musik- und Kongresshalle Lübeck
Das siebente Saisonkonzert des NDR – ein Programm voll innerer Bezüge

Die Konzertreihe des NDR geht ihrem Ende entgegen, wie gewohnt in der Programmgestaltung überraschungsvoll und mit einigem Anspruch. Das Lübecker Konzertpublikum musste allerdings in dieser Saison lernen, dass der Sender gleich zwei große Sinfonieorchester unterhält, das eine mit seinem spektakulären Domizil an der Elbe, das andere, das kleinere, im Rundfunkensemble an Hannovers künstlich angelegtem Maschsee.

Sie, die NDR Radiophilharmoniker, vertraten zweimal die seit Jahrzehnten in der MuK gewohnt gewordenen Elbphilharmoniker. Unwillkürlich stellt sich ein Vergleich ein, der hier aber bewusst vermieden werden soll. Nur dies: Im fünften Saisonkonzert kamen die Hannoveraner mit einem ungewöhnlichen Programm, mit beiden Klavier-Konzerten von Johannes Brahms an einem Abend. Wollte man damit  einem Publikum eine Reverenz erweisen, das in der Stadt zu Hause ist, die Hamburg in der „Brahms“-Pflege aussticht?

Jetzt, am 21. April 2023, boten sie ein in anderer Art delikates Programm. Intelligent verband es zwei sublime Kompositionen des Impressionisten Maurice Ravel, beide mit eher kammermusikalischem Zuschnitt, mit einem gegensätzlichen, eher wuchtigen Orchesterwerk, das aber einen kammermusikalischen Kern besitzt. Kein geringerer als der Neutöner Arnold Schönberg hatte nämlich Johannes Brahms’ Klavierquartett g-Moll op. 25 durch seinen analysierenden Kunstverstand klanglich so verwandelt, dass diese Variante schon einmal als Brahms‘ fünfte Sinfonie bezeichnet wurde.  

Dejan Lazić und die NDR Radiophilharmonie, Foto: Hildegard PrzybylaDejan Lazić und die NDR Radiophilharmonie, Foto: Hildegard Przybyla

Der Abend begann mit „Le Tombeau de Couperin“, mit einem Werk, das durch die Entstehungszeit geprägt ist. Vor Beginn des Ersten Weltkriegs schon hatte der Komponist geplant, eine Suite für Klavier in Memoriam und in Anlehnung an François Couperin zu schreiben. Sie sollte an den für die französische Musik so wichtigen Barockkomponisten erinnern. In dessen Zeit wurde der Begriff „tombeau“ für Kompositionen benutzt, die verstorbene Musiker ehrten. Der Erste Weltkrieg, in dem Ravel wegen seiner geringen Körpergröße als „untauglich“ eingestuft wurde, in dem er dennoch als Sanitätsfahrer diente, brachte traurige Gelegenheit für Ravel, diese Tradition zu vertiefen. Jeden der sechs Suiten-Sätze widmete er einem im Krieg gefallenen Musiker. Dass die Widmungsträger heute keine Assoziationen wecken, stellt die komplexe Ausdruckskraft der Musik umso mehr heraus, die keine Charakterbilder zeichnen wollte. Vier der sechs Klaviersätze instrumentierte er dann 1919 für Orchester, ordnete die Folge allerdings aus musikalischen Gründen neu. Es ist in dieser Gestalt ein diffiziles Werk geworden, das beide fordert, das Orchester wie den Dirigenten.      

Marc Albrecht, Sohn aus musikalischem Haus und in Hannover aufgewachsen, war an diesem Abend der Dirigent, ein Gast mit ungewöhnlicher Karriere und internationaler Erfahrung. Er hatte für Ravel eine glückliche Hand, forderte vom sensibel reagierenden Orchester forsches Tempo und beispielhafte Leichtigkeit. Von Anbeginn an spürte der Zuhörer eine gute Vertrautheit zwischen ihm und dem Orchester. Klar und sensibel abgestuft war das Prélude. Ihm folgte eine Forlane, ein historischer Tanz mit sinnlich schleifendem Schritt. Zu diesem Satz gibt es eine Beigeschichte, von der nur so viel erzählt sei, dass dieser erotisch geprägte Tanz vor allem von Kurtisanen getanzt wurde. Ravel machte sich ein Vergnügen daraus, ihn wegen einer aus Unkenntnis erteilten päpstlichen Empfehlung einzufügen. Als sensibler Gegensatz folgte ihm ein ruhiges und würdevolles Menuett mit einem besinnlichen Mittelteil. Ein temperamentvoller Schlusstanz, ein Rigaudon, schloss lebhaft und mitreißend die Suite ab. 

Dejan Lazić und die NDR Radiophilharmonie, Foto: Hildegard PrzybylaDejan Lazić und die NDR Radiophilharmonie, Foto: Hildegard Przybyla

Ähnlich effektvoll dargeboten wurde Ravels Klavierkonzert in G-Dur, mehr als zehn Jahre später entstanden. Es sei, hatte er verraten, im Geiste der Konzerte von Mozart und Saint-Saëns geschrieben und fröhlich und brillant. Darin spiegelt sich wiederum der Geist der Zeit am Ende der 30iger Jahre, der den Jazz auch für Europa entdeckt hatte. In geistvoller Manier setzte Ravel ihn in dem Konzert um, im ersten ein wenig und im dritten Satz recht deutlich. Es ist der Jazz, wie ihn George Gershwin in Amerika in Oper und Konzert eingeführt hatte. Die beiden Musiker kannten sich, schätzten sich auch. Bekannt ist, dass Gershwin sich bemühte, von Ravel als Schüler angenommen zu werden, was dieser ablehnte. 

Als Pianist war der junge Kroate Dejan Lazić verpflichtet worden, der mit seinem feinen und gewandten Anschlag delikat den Anforderungen nachkam. Vor allem die schwebende Besonderheit des eigenwilligen Mittelsatzes meisterte er mit bewundernswerter innerer Spannung. War dagegen der erste Satz noch etwas zu zurückhaltend, auch durch das Dirigat, fand man sich im letzten Satz zu einem spritzigen Kehraus. Als Dank für den Applaus spielte Lazić ein kurzes Stück von Dmitri Schostakowitsch.     

Nach der Pause mochte man sich fragen, war es Zufall oder Absicht, Lazić eingeladen zu haben, denn er ist nicht nur Solist, auch Komponist, hatte sich auch an Brahms erprobt und ein „drittes“ Konzert für Klavier und Orchester erschaffen. Vorlage war das D-Dur Violinkonzert op. 77. Jetzt aber wurde jenes andere Werk aufgeführt, das äußerst reizvoll und zugleich gültig ein Kammermusikwerk in einen sinfonischen Brocken von Dreiviertelstunden Dauer umwandelte. Arnold Schönberg war es, der Neutöner des beginnenden 20. Jahrhunderts, der auf diese Weise noch enger sich Brahms näherte, indem er dessen 1861 entstandenes Klavierquartett in g-Moll für ein sinfonisches Orchester instrumentierte.

Dirigent Marc Albrecht und die NDR Radiophilharmonie, Foto: Hildegard PrzybylaDirigent Marc Albrecht und die NDR Radiophilharmonie, Foto: Hildegard Przybyla

Alle Orchesterfarben wurden genutzt, so dass in diesem Teil nicht mehr die kammermusikalische Besetzung der Ravel-Stücke genügte. Alles nutzte Schönberg, von der starken Streicherbesetzung bis zu dem reichlichen Schlagwerk mit Xylophon und viel Tam-Tam. Wer das zum ersten Male hörte, mochte sich verwundern, wie das den Musikern gelang; wer es nicht zum ersten Male hörte, war wieder überrascht, wie alles in vielen Partien wirklich nach Brahmsscher Sinfonik klang. Der Schlusssatz des ersten Abschnitts in diesem Bericht bestätigte sich: Schönbergs Annäherung war gelungen und das Orchester und sein Dirigent hatten es bewiesen. Nach dem „Rondo alla zingarese“ im Presto des Finales wollte der Beifall nicht enden.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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