Alain Altinoglu, Foto: (c) Marco Borggreve

MuK
Begeisternde Sprach- und Klangbilder beim NDR Elbphilharmonie Orchester

Manchmal zwingt die Duplizität von Ereignissen zum Vergleich. In Lübecks musikalischem Festsaal, der Muk, gab es gleich zwei Konzerte, die stark bewegten. Obwohl verschiedene Orchester spielten, ähnelten sich die Programme sehr, hatten auch innere Bezüge.

Die Lübecker Philharmoniker waren in ihrem Konzert vor nicht einmal einer Woche mit Gustav Mahlers Liederzyklus „Kindertotenlieder“ vorausgegangen, hatten sie mit der fünften Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch gekoppelt. Jetzt (25. Oktober) führte das NDR Elbphilharmonie Orchester einen Liederzyklus von Schostakowitsch auf, die „Suite nach Gedichten von Michelangelo Buonarotti“, der im zweiten Teil Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ folgten.

Mahlers Lieder tragen schon im Titel den Abschiedsgedanken. Sie entstanden in einer Zeit, in der Mahler den Verlust eigener Kinder noch nicht hatte erleiden müssen, aber sechs seiner elf Geschwister waren im Kindesalter gestorben. So war ihm, dem etwas über Vierzigjährigen, die Stimmungswelt vertraut, die die Gedichte Friedrich Rückerts so einfühlsam beschrieben. Bei Schostakowitsch war es anders. Er fühlte, 68 Jahre alt, sein eigenes Ende nahen. Angeregt durch seine Frau Irina beschäftigte er sich auf dem Krankenbett mit den sehr konzentrierten Texten des vor allem als Maler und Bildhauer bekannten Michelangelos. Er war der bedeutendste Künstler der italienischen Hochrenaissance. Elf seiner Gedichte, in Sonettform zumeist, band Schostakowitsch zu einem Zyklus zusammen. Es sollte sein vorletztes Werk werden und entstand zunächst mit einer Klavierbegleitung. Doch der Komponist vermochte es selbst noch zu orchestrieren.

Foto: Matthias GoerneFoto: Matthias Goerne

In der Art zu instrumentieren zeigt sich eine weitere Ähnlichkeit zu Gustav Mahler, den Schostakowitsch zeitlebens sehr bewunderte. Beide Zyklen nutzen ein großes Sinfonieorchester, setzen es aber kammermusikalisch ein. So ergaben sich für die Sänger, beide international auf Opernbühnen und im Konzertsaal bekannt, sehr intime Momente, die vor einer Woche die Mezzosopranistin Angelika Kirchschläger bei den „Kindertotenliedern“ (ihre Leistung wurde in „Unser-Luebeck“ bereits gewürdigt) ebenso nutzte wie jetzt der Bariton Matthias Goerne. Schostakowitsch führte die Stimme sehr häufig im tiefen Bereich, die zudem durch den Klang der russischen Sprache noch eingefärbt wurde. Bewundernswert fing seine Stimme die divergenten Stimmungen der Lieder ein. Häufig erinnerte der Zyklus, von Schostakowitsch „Suite“ genannt, in der sorgsamen musikalischen Gestaltung (Signalmotiv!) und in der Anordnung der Texte an Momente in der Biografie des Komponisten. So scheint in „Wahrheit“, dem ersten der vertonten Texte, auf die schwierige Zeit in der Stalin-Ära angespielt zu werden, leitmotivisch wieder in „Zorn“ und „Schaffen“, dem fünften und achten der Lieder. Im Zentrum steht das pathetische „Dante“, den Abschluss bilden „Tod“ und „Unsterblichkeit“. Wie in einem Volkslied ist dort der Ton bei der Textstelle: „Ich leb‘ in euch und geh‘ durch eure Träume“. Der Komponist hatte immer wieder in seinen Werken auf den Urgrund aller Musik zurückgegriffen.

Alain Altinoglu (* 1975), ein französischer Dirigent armenischer Abstammung, leitete erstmals das Hamburger Orchester. Er hatte zu beiden, dem Sänger und den Orchestermusikern, einen sehr guten Kontakt, gab der Stimme immer den Vorrang, die ihr die feinsinnige Gestaltung ermöglichte, sie nie überforderte. Doch auch für die filigrane Komposition setzte er sich aufmerksam ein, suchte jede Ausdrucks- und Stimmungsvariante zu gestalten.

Der zweite Teil dann, wieder durch das Russische in der kraftvollen Mentalität Modest Mussorgskys bestimmt, fand in der Wiedergabe durch das Orchester große Bewunderung. Wie markant der Komponist die Bilder Viktor Hartmanns, seines Malerfreundes, in seiner Klavierkomposition eingefangen hatte, hob Maurice Ravel dann in seiner kongenialen Instrumentierung noch wirkungsvoller hervor: das bizarre Zappeln des „Gnoms“, das Wirbeln der Kinder in den „Tuilerien“ oder die Tiefe der „Katakomben“ in der Gruft. Der Dirigent führte das Orchester auch hier sehr bewusst, achtete vor allem auf Sicherheit und Schönklang. Fließend und dynamisch differenziert waren die „Promenaden“, wunderbar klangvoll in der Akustik der MuK das Saxophon oder das Fagott im „Alten Schloss“ oder die Tuba im „Bydlo“. Da fehlte es dem Dirigenten nur manchmal am Mut zur Unschärfe, die den schon expressionistisch anmutenden Klanggestus im Charakterbild von „Samuel Goldberg und Schmuyle“ noch verschärft oder den Grotesktanz der Behausung der Baba-Jaga in der „Hütte auf Hühnerfüßen“ auf die Spitze getrieben hätte. Das gravitätische Pathos des „Großen Tors von Kiew“, durch das das Publikum entlassen wurde, entfaltete dann wieder all seine unmittelbare Kraft.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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