Antoine Tamestit, Foto: (c) Hildegard Przybyla

MuK Lübeck
Die Konzertreihe des NDR mit einem außergewöhnlichen Saisonbeginn

Das war schon ein eigenwilliger, vom Programm her anspruchsvoller Saisonstart, spieltechnisch und interpretatorisch für die Musiker, wegen der großen Stilbreite zudem für das Publikum. Das Elbphilharmonie Orchester hatte zunächst zwei Werke aus der Kammermusik im Programm, wobei vor allem die erste dieser kleinformatigen Kompositionen daran erinnerte, dass sie Vorläuferin des Konzertierens mit großen Ensembles ist. Zeitlich einiges später führte das erst zu den sinfonischen Großwerken, die Europas Musikkultur prägen.

Zunächst erklang also eine barocke Komposition von Johann Sebastian Bach, sein sechstes „Brandenburgisches Konzert“. Es war ein eher selten gespieltes Beispiel dafür, wie im Barock sich die Komponisten erstmals an standardisierte Spielformen herantasteten. Dann folgte die etwas mehr als 200 Jahre später geschaffene Kammermusik Nr. 5 von Paul Hindemith. Hindemith studierte all die gewichtigen Formate des Barocks, der Klassik und der Romantik. Immer wieder ist es anregend, ihn zu beobachten, wie er mit alten Vorbildern umging.

Antoine Tamestit und Alan Gilbert, beide an der Bratsche mit Quintett beim Brandenburgischen Konzert Nr. 8, Foto: Hildegard PrzybylaAntoine Tamestit und Alan Gilbert, beide an der Bratsche mit Quintett beim Brandenburgischen Konzert Nr. 8, Foto: Hildegard Przybyla

Zum ersten Programmpunkt betraten nur sieben Musiker die Bühne. Der NDR präsentierte dabei seinen neuen „Artist in Residence“, den in Paris geborenen Bratscher Antoine Tamestit. Zusammen mit Alan Gilbert, hier einmal nicht mit dem Dirigierstab in der Hand, sondern mit dem Viola-Bogen, und Andreas Grünkorn, dem Ersten Cellisten des Orchesters, übernahm er in Bachs auch damals ungewöhnlicher Komposition die eine der Solo-Partien. Bach hatte für die drei Instrumente in den drei Sätzen wunderbar konzertante Aufgaben gefunden, die im polyphonen Miteinander stark forderten. In typischer barocker Manier stand ihnen ein Ripieno, eine Begleitgruppe, gegenüber, das mit zwei weiteren Cellos, einem Kontrabass und dem Cembalo hier nur gering besetzt war. Dennoch lieferten sie mit klopfenden Vierteln ein markantes Stilelement, das bei Hindemith dann grandios variiert wurde.

Antoine Tamestit, Foto: (c) Hildegard PrzybylaAntoine Tamestit, Foto: (c) Hildegard Przybyla

Schon hier zeigte sich Tamestits Können im Zusammenspiel und zugleich sein Klangsinn, wenn er den ungewöhnlich schönen Ton seines Instruments hervorzauberte. Er spielt eines der wenigen von Stradivari gebauten Violoncellos, das sich dann im zweiten Programmteil in Hindemiths Kammerkonzert gegen ein vielseitigeres Ensemble durchsetzen musste. Der Komponist Paul Hindemith hatte es 1927 zum eigenen Gebrauch als ein technisch herausforderndes Werk komponiert, mit dem er seinen Ruf als herausragender Bratscher festigen konnte. Dass seine Komposition Bachs gerade zuvor gehörtes Werk als Vorbild hatte, war allein schon auffällig durch das auch hier vorwärtstreibende Bewegungsfundament in Vierteln zu erkennen. Wie bei Bach fehlten die hellen Farben der Violinen, während das Polyphone noch dadurch betont wurde, dass alle Holz- und Blechinstrumente ausschließlich solistisch besetzt waren, nur die Celli und Kontrabässe mehrfach.

Seine ganze Vitalität zeigte Hindemith dann in dem spritzigen Finalsatz, in dem er sich mit seinen Klangmitteln über einen Bayrischen Militärmarsch hermachte. Das Publikum war begeistert, bekam für seinen großen Applaus als Zugabe den vierten, vorletzten Satz aus Hindemiths Sonate für Bratsche Solo (op. 25 No. 1). Er war atemnehmend virtuos, wieder durch Tonrepetition und verblüffende Akkordbildungen geprägt. Der Komponist hatte ihn mit dieser Spielanweisung versehen: „Rasendes Zeitmaß. Wild. Tonschönheit ist Nebensache“.

Foto: (c) Hildegard PrzybylaFoto: (c) Hildegard Przybyla

Nach der Pause endete das Konzert mit einem weiteren Musikstück, das wie die anderen eher selten in Programmen auftaucht. Es ist Ludwig van Beethovens 1. Sinfonie, deren großartige Besonderheit diese Interpretation bewusst machte. Sie leidet fälschlicherweise oft unter dem Vergleich mit Haydns sinfonischem Stil. Das Frische und Anregende war aber in dieser Interpretation zu hören. Das Orchester fühlte sich hörbar, sogar sichtlich wohl unter der agilen, zugleich sensiblen Führung durch ihren „Chef“ Alan Gilbert. Man spürte, dass sie von der feinen dynamischen Gestaltung überzeugt waren und ihr sehr sorgsam folgten. Auffallend war, wie Gilbert im zweiten Satz den tänzerischen Gestus hervorhob. So entstand aus diesem Satz eine Art apartes Menuett, das bei Haydn zumeist erst im dritten Satz auftrat, vor allem aber apart polyphon strukturiert ist. Das der bei Beethoven Scherzo-Charakter hatte, ist schon oft hervorgehoben. Was feinsinnige Dynamik bewirkt, ließ sich dann am Finalsatz anhören: Das Publikum war begeistert und applaudierte ungewöhnlich lange.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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