Für das letzte Konzert dieser Saison (1. Juni 2024) hatte der NDR sich ein beziehungsreiches Programm ausgedacht, das in gleich drei Hansestädten im Sendegebiet erklang, in der „Elfi“, dem Spielort des Orchesters am Hamburger Elbufer, am Tag drauf am Trave-Ufer in der MuK und noch einen Tag später in Wismar, dort in der durch den Zweiten Weltkrieg arg geschundenen St. Georgen-Kirche. Sie ist eine der drei gotischen Sakralbauten Wismars. Wegen der politischen Verhältnisse wurde sie erst spät, erst nach der Wende wieder aufgebaut.
Das Programm stand einem Saisonabschluss gut an und erhielt ein besonderes Gesicht zudem durch zwei Musikerinnen auf dem Podium. Die eine, die 1956 in New York geborene Marin Alsop, war als Dirigentin eingeladen, die andere, die 1998 geborene Jess Gillam, stand als Saxophonistin mit einem für klassische Musik ungewöhnlichen Instrument auf der Bühne. Sie stammt aus dem englischen Ulverston. Wir können uns nicht verkneifen, einen weiteren Vertreter dieser Stadt zu nennen. Weltweit und Jung und Alt ist er bekannt. Es ist der etwas mehr als 100 Jahre vorher dort aufgewachsene Stanley Jefferson, der sich als Komiker Stan Laurel nannte. Wer bewundert ihn und seinen Partner Oliver Hardy nicht? Irgendwie passt er auch zum Saxophon, zu der breiten Ausdrucksskala dieses Instrumentes. Vieles davon war aus der faszinierenden und tiefsinnigen Komposition von James Macmillan (*1959) herauszuhören. Es ist ein Konzert für Sopran-Saxophon und Streichorchester, 2017 entstanden. Wie vielseitig es war, mehr als nur ein Werk, die Fähigkeiten des Blasinstruments herauszustellen, zeigte sich zum Beispiel im Vergleich zu der teils rasanten, auch stimmungsvollen, aber weit einfacheren Zugabe.
Im Programmheft erklärt der Komponist, dass dieses kurze, nur 15minütige Konzert auf Archetypen der schottischen traditionellen Musik basiert. Dennoch gehören beide Partner zusammen, denn die drei Sätze, „March, Strathspey and Rewel. Quasi marcia“ der erste, der zweite „Garlic Psalm. Largo“ und das finale „Giocoso“, lebten vom Miteinander. Beide waren sie eigenständig, reagierten stets aufeinander, überrascht oder Hilfe erwartend oder gemeinsam die Situation rettend. Im ersten Satz probierten sie sich in drei Phasen aus, suchten im zweiten in Ruhe und Besinnlichkeit nach gemeinsamer Tiefe, bevor sie sich im letzten Satz auf das einließen, was ihr angeborenes, ihnen mitgegebenes Wesen ausmacht: ihre musikalische Herkunft. Faszinierend, wie Jess Gillam alles lebendig werden ließ oder zum einfachen Sich-Versenken einlud. Vieles dieser inneren Kraft strahlte auf das Streichensemble aus und verband sich innig mit seinem Klang, auch deshalb, weil es nicht nur einfach untermalte, sondern Eigenes beisteuerte. Auch der Dirigentin musste Jess Gillams Agieren imponiert habe. Sie dankte ihr, indem sie sie umarmte.
Die beiden Frauen einte mehr noch, hatte jede doch bei den Last Nights of the Proms, dem Höhe- und Endpunkt der sommerlichen, vom BBC betreuten Konzertreihen, einen besonderen Akzent gesetzt. Wer dort auftreten darf, wird gleichsam musikalisch geadelt. Erwähnenswert ist das, weil die Konzerte in der gewaltigen Rotunde der Londoner Royal Albert Hall seit langem schon zum spektakulär inszenierten, weltweit verfolgten Finalereignis klassischer Konzerte geworden sind. Sie finden dort allerdings erst seit etwas mehr als acht Jahrzehnten statt, obwohl ihre Geschichte bis 1895 zurückreicht. Verschwiegen sei nicht der Grund für den Ortswechsel: Der historische Aufführungsort, die Queen’s Hall, wurde 1941 durch deutsche Bomben zerstört und nicht mehr als Konzertraum restauriert. Dass die Veranstaltungs-Reihe schon 1942 ausgerechnet in den Bau wechselte, der Gedenkstätte des deutschstämmigen Gemahls von Königin Victoria war, des Prinzen Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, ist wohl ebenfalls bemerkenswert, verhinderte aber nicht die Zerstörung von weiteren Kulturgütern auf beiden Seiten, wie auch dem in Wismar. Dankbar darf man sein, dass die heutige Kultur diese Gräben überwunden hat. Dass sich neue, andersgeartete auftun, ist eigentlich zum Verzweifeln.
Viele Jahre später, im Jahr 2013, war Marin Alsop als erste Frau bei der Last Night zum Dirigieren eingeladen worden, das scheinbar männliche Privileg durchbrechend, seitdem sogar noch zwei weitere Male. Das ist emanzipatorisch als großer Sieg zu deuten, belegt spät, aber deutlich, dass auch Frauen führen können. Auch Jess Gillams Auftritt im Jahre 2018 geht in das Buch der Besonderheiten dieser Last Nights ein. Die damals erst 20-Jährige war, obwohl sie bei anderen Konzerten der Sommerreihe bereits mitgewirkt hatte, doch die bisher jüngste Solistin bei einem der Abschlusskonzerte. Ob es noch einen jüngeren männlichen gab, ließ sich so schnell nicht herausfinden. Aber den ganz besonderen Fähigkeiten von Jess Gillam, der jetzt 26-jährigen Musikerin, hatte das Lübecker Publikum lange applaudiert.
In den das Saxofon-Konzert rahmenden Stücken stand die Dirigierkunst von Marin Alsop im Vordergrund. Auch hier war ein innerer Bezug gegeben. Er entstand durch die außergewöhnlichen Liebesbeziehungen, die beiden Sujets zugrunde lagen. Ludwig van Beethovens dritte „Leonoren“-Ouvertüre zu Beginn wirkte in diesem Konzert außergewöhnlich sinnfällig, wie eben eine kurze Vorwegnahme des dramatischen Ablaufs, was diese vorangestellten Stücke leisten wollten. Und Sergej Prokofjews Ballett-Musik zu „Romeo und Julia“, deren Szenenauswahl bereits in anderen Suiten für die konzertante Aufführung zusammengestellt worden war, gaben der Musik ihren Grundcharakter zurück, den von tänzerischer Intensität und gleichzeitig der, das Atmosphärische einzufangen. Marin Alsop hatte die Szenenfolge neu geordnet, also eine neue Suite zusammengestellt, kannte die Partitur wohl dadurch so, dass sie sie nicht auf ihrem Pult vor sich haben musste. Nicht nur das gab ihr die Freiheit zu einer mitreißenden Wiedergabe, bei der die Elbphilharmoniker sich ungewöhnlich emotional einsetzten. Die Musiker verstanden jede Geste von ihr, ließen sich auf jede Hinwendung ein. Auch hier war wieder eine großartige gemeinsame Leistung, zugleich mitreißende zu erleben. Auch nach diesem Stück wollte der Beifall nicht enden.