Pianist Kirill Gerstein, Foto: Hildegard Przybyla

Musik- und Kongresshalle Lübeck
Rauschende Klangszenen beim sechsten NDR-Konzert

Bei seinem sechsten Konzert lockte das NDR Elbphilharmonie Orchester ein paar mehr Besucher in die MuK. Drei relativ kurze Kompositionen wurden dabei in einem Programm präsentiert, das nach ganz klassischer Art gestrickt war. Ein poetisches Werk eröffnete, ein Konzert folgte, sogar wie zumeist eines für das Klavier, und im zweiten Teil beschloss eine frühromantische Sinfonie einen klangschönen Abend. Was wollte ein Publikum mehr, da zudem ein furioser Dirigent am Pult stand. Es war Omer Meir Wellber.

Seit der Spielzeit 2019/18 kennen sich die Elbphilharmoniker und er. Zudem avancierte er 2022 beim SHMF-Festival zum Porträtkünstler, bei dem er auch seine anderen Fähigkeiten demonstrieren konnte, die als Akkordeonspieler, als Pianist und die als Komponist. Dass er sogar literarisch punkten kann, bewies er Ende 2019 mit seinem als Schelmenroman eingeordneten Buch „Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner“. Noch eines ist anzufügen: Ab der Saison 25/26 wird er die Leitung der Hamburger Staatsoper übernehmen und damit verbunden die der Hamburger Philharmoniker.

Bei dieser Vielseitigkeit muss ein Künstler zielstrebig sein. Dass er es ist, fällt sogar bereits beim Bühnenauftritt auf: Kein langes Warten gibt es, wie bei anderen Pultartisten. Kaum ist das Orchester mit dem Einstimmen fertig, öffnet sich die Seitentür zum Saal und schon eilt Wellber zu seinem Pult und hebt die Hände zum Einsatz. Er gilt einem Prélude, hier dem einer viersätzigen Suite. 1901 hatte sie Gabriel Fauré (1845 - 1924) zusammengefügt. Er hatte sie den Schauspielmusiken entnommen, die er zwei Jahre zuvor für eine Londoner Aufführung von Maeterlincks Drama „Pelléas et Mélisande“ komponiert hatte. Es ist ein Liebesdrama, das auch andere Komponistenkollegen (Debussy, Schönberg oder Sibelius) inspirierte. Mit einer kurzen, warm harmonisierten und ruhig schwebenden Phrase beginnt es, eine Pause folgt, die Tonfolge wird wie ein geheimnisvolles inneres Echo wiederholt, bevor der erwartete Aufschwung entsteht. Mit viel Körpereinsatz und genauen Zeichen formt Wellber dabei jede Einzelheit, die die Partitur an Farbe, Tempo und Dynamik bereithält und animiert das Orchester zu einem klangvollen Gewebe der Stimmen. Einzelne Instrumente lässt er hervorstechen, das Cello etwa, das Fagott, die Flöte über dem leisen Paukenwirbel, bevor später das Horn mit einem rhythmischen Eintonmotiv in eine etwas andere Ausdruckswelt leitet. Sorgsam breitet das Orchester dieses Klanggemälde aus.

Pianist Kirill Gerstein, Foto: Hildegard PrzybylaPianist Kirill Gerstein, Foto: Hildegard Przybyla

Nur einzelne Momente des Dramas erfassen die anderen Teile. Im kurzen, von Wellber fast übergangslos angeschlossenen zweiten Suitensatz „La Fileuse“, wird Mélisande am Spinnrad gezeigt, dessen Schnurren und Treten des Schwungrades deutlich herauszuhören ist. Im idyllischen dritten, der „Sicilienne“, vereinen sich Harfe und Flöte in einem wunderbar zarten Duett oder schmeicheln Oboe und Fagott, auch das Horn. Alles vermittelt eine sensible Welt, deren Tiefe feine dynamische Schattierungen verlangt. Erst der Finalsatz mit seinem Totenmarsch zu Beginn, erzeugt durch den hohlen Klang von Holzbläsern und einer archaisch anmutenden Harmonik, bezieht sich direkt auf das Drama und das tragische Ende. Auch sein Titel verrät es: „La Mort de Mélisande“.

Der zweite Beitrag, das 1932 in Paris uraufgeführte Klavierkonzert in G-Dur von Maurice Ravel (1875 - 1937), holte das Publikum mit Temperament und Spielwitz aus der nachdenklichen Stimmung heraus. Merkwürdig ist, dass fast auf den Tag genau vor Jahresfrist die NDR Radiophilharmoniker mit ihm an gleicher Stelle und in gleichem Rahmen auftraten. Die diesjährige Aufführung allerdings bringt das Stück wieder dahin, wohin es gehört, in die Nähe des Jazz und des sich aufbäumenden 20. Jahrhunderts. Kirill Gerstein war dafür der richtige Anwalt. 1973 im zentralrussischen Woronesh geboren, wurde er amerikanischer Staatsbürger und lebt jetzt in Berlin. Er hatte das, was Ravels Werk braucht: das hohe Maß an Präzision im Anschlag und die herausragende Technik, die rasanten Kaskaden und rhythmisch diffizilen Passagen zu überstehen - „leicht und brillant“, wie sich der Komponist ein Konzert vorstellte. So selbstverständlich wie von ihm hat man vor allem den besonderen Mittelsatz, den Jazz-Waltz im Adagio assai, noch nie gehört. Grandios zu beobachten war zudem, wie Welbers präzises Dirigieren und der akribische Anschlag Gersteins sich auch in den Ecksätzen ergänzten. So entstand eine wunderbare Symbiose zwischen ihnen und zu dem Orchester. Kein Wunder, dass die eine Zugabe, eine Bearbeitung eines Rachmaninow-Liedes durch Gerstein, dem begeisterten Publikum zu wenig war.

Franz Schuberts (1797 -1828) frühe Sinfonie Nr. 3 in D-Dur beendete dann im zweiten Teil ein Konzert, das fern aller verwickelten musikalischen Offenbarung war, aber den Impetus mitreißender Musik hatte und von ungestümer Schöpfungskraft zeugte. Denn auch die Dritte, das 1815 komponierte Werk eines erst 18-Jährigen (Erst 1881 wurde es erstmals in London ganz zur Aufführung gebracht!) besaß das, was an diesem Abend immer wieder erfreute, den vorwärtsdrängenden Schwung, der zum Neuen führte. Wellber schürte das im Kopfsatz in der Einleitung durch sich steigernde Verdichtung, auch bei den fein gesteuerten Phrasenschlüssen. Die letzten Töne wurden nicht abgerissen, sondern sorgfältig ausgespielt. Er hatte auch ein gutes Empfinden für die schwingende Melodik der Exposition, die immer ein schnelles, doch angemessenes Grundtempo besaß. So bewahrte er den heiteren Grundcharakter. Im zweiten Satz durften dann die Klarinetten dem Mittelsatz genussvoll ihren besonderen Ton geben. Lediglich der 3. Satz konnte nicht ganz befriedigen. Wellber schien bereits bei der Wiederholung des A-Teiles die Tarantel gestochen zu haben, die Schubert erst für den Schlusssatz vorgesehen hatte. Bei solch einem Tempo ist eine Stolperbetonung im Dreiertakt nicht mehr ausführbar. Auch im Finalsatz hob das übertriebene Tarantella-Tempo die Eleganz des italienischen Tanzes auf.

NDR Elbphilharmonie Orchester, Dirigent Omer Meir Wellber, Foto: Hildegard PrzybylaNDR Elbphilharmonie Orchester, Dirigent Omer Meir Wellber, Foto: Hildegard Przybyla

Das Publikum jubelte lange. Wellber schien das zu freuen. Scherzhaft blickte er nach oben zum Rang über der Bühne. Er war unbesetzt, er dankte dennoch wie in der Elfi-Arena hinauf. Wollte er sagen: „Die MuK hat auch eine wunderbare, rundum zufriedenstellende Akustik?“

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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