Immer ein guter Tag, wenn die Nordischen Filmtage Lübeck (NFL) beginnen. Heuer am 05. November, die 66. Ausgabe inzwischen, mit einer Art Pre-Show im Infinity Dome. "Lübeck hoch 3" hieß das Programm, bei dem das Labor für Immersive Medien der TH und das Studio für Elektronische Musik der Musikhochschule mit künstlerischen und wissenschaftlichen Projekten, Videos, Musik, Wort und 360°-Kurzfilmen beim Dom im Dome am Klingenberg kooperierten.
Mittlerweile ein gut frequentierter Spielort im Rahmen der Filmtage, wirkt die eierschalige Sphäre innen deutlich größer als außen, grafische und kinematografische Projektionen lösen die räumlichen Grenzen via Wahrnehmung einfach auf. Gute Verhältnisse und Abmessungen für weitere Möglichkeiten und neue Ideen.
Ungute Perspektiven dagegen in und aus den USA, wo am Ende des Tages Donald Trump zum 47. Präsidenten gewählt worden sein wird. Ganz der Alte wie neulich als 45., hat er nach personellen Winkelzügen im Kongress und im Supreme Court weitgehende Immunität und mehr Macht als irgendeiner vor ihm. Angemessen angebissen von den Ereignissen, gab Moderatorin Loretta Stern bei der feierlichen Eröffnung der Filmtage am 06.11. die 'Parole Kino' aus, trotz und wegen alledem. Die Nachricht über das Aus der Ampelkoalition hat zu dem Zeitpunkt gerade noch gefehlt. Kam dann im Tagesverlauf.
Aber zurzeit ist ja immer mehr als genug da von allem, das muss, um zu sein. Überschwemmungskatastrophen, Antisemitismus u.a. Diskriminierungssorten im öffentlichen Raum, ordentlich gewählte Neofaschisten in Europas Parlamenten. Krieg im nahen und näheren Osten, und, hier kaum beachtet, „Der vergessene Krieg“ (tagesschau.de) im Sudan. Das Überleben von Migranten wird monetär kalkuliert, eine „Politik des Sterbenlassens“ (Migrationsforscherin Judith Kohlenberger) hat Raum gegriffen.
Pläne zur Dezimierung der öffentlich-rechtlichen Kultur-Programme liegen auf, eine Fusionierung von 3sat und arte z.B., die Kultur-Etats der Stadt Berlin und des Goethe-Instituts sind gekürzt: Absurde Vorgänge gerade in einer Zeit, in der humanistisch-moralische, verlässliche Wertemultiplikatoren - nicht zuletzt in den Massenmedien – immer wichtiger werden in der BRD. Verhältnisse, in deren Angesicht die große Nähe des NFL-Programms zur Gegenwart und zum gegenwärtig Gestrigen spürbar wesentlich blieb, sowieso und einmal mehr. Mit Filmen über Finsternis und Hoffnung, gesellschaftliche Tendenzen, individuelle Befindlichkeiten, das Abseitige und Futur II. Und von der Liebe!, meine Damen und Herren, „the biggest poison and medicine of all“ (Joni Mitchell). Der blanke Horror mitunter.
Der blanke Horror
Anna, eine junge Frau um die 30, liebt, ohne es noch zu können. Seelisch totalbeschädigt durch den Tod eines geliebten Menschen, geht sie durch den Alltag wie ein stummer Schrei. Ähnlich eine traumatisierte Familie, die auseinander fällt, eine alte Frau, die ihre Lebensgefährtin verloren hat.
Dann Erdstöße, Rütteln. Autoalarmanlagen, Ampeln und was sonst noch Strom hat, flackert und dröhnt. Nach ein paar Sekunden ist es vorbei. Ein alter Mann auf dem Friedhof, seitlich mit dem Kopf auf das Grab gerutscht, neben dem er saß, hört ein leises Klopfen von unten. Der 5-Jährige, den sein Großvater dann ohne Zögern aus dem Grab nach Hause in den Wohnblock holt und in die Badewanne steckt, ist apathisch, gebrechlich, grauhäutig, entstellt. Und zuerst und vor allem ein gequältes Kind. Ein mitleiderregender Anblick.
Dass Regisseurin Thea Hvistendahls ihr Langfilmdebüt nicht als Zombie-Film bezeichnen möchte, ist nachvollziehbar. Handling the Undead, ist ein etwas anderer Auferstehungsfilm, ein metaphorisches Drama über Verlust und Trauer mit Mitteln des Horrorfilms. Die Erzählung lebt von Reduktion und großer Langsamkeit; Pal Ulvik Rockseths Kamera und die Musik von Peter Raeburn (Under The Skin, Breaking The Waves) bewegen sich in langen Millimetern. Nina Simones stille, flehende Version von Jacques Brels „Ne Me Quitte Pas“ in den Film zu nehmen, ein Chanson über die Furcht vor dem Verlassenwerden, ist so offensichtlich wie erschütternd.
Anna, die junge Mutter, wird eindrucksvoll verkörpert von der Norwegerin Renate Reinsve, bekannt aus Joachim Triers Der schlimmste Mensch der Welt (2021). Sie spielt auch die Hauptrolle im Ensemblestück Elternabend, Elisabeth, alleinerziehende Mutter, beruflich erfolgreich als Schauspielerin, deren 6-jähriger Sohn Armand seinen gleichaltrigen Freund Jon auf der Schultoilette sexuell bedroht haben soll; Jon wurde weinend und mit heruntergelassener Hose angetroffen. Die Eltern sind zur Unterredung und Klärung in die Schule einbestellt, waren mal gut befreundet, die Stimmung ist angespannt.
Der leicht schweißige Rektor zwingt zunächst die überforderte junge Lehrerin Sunna (großartig: Thea Lambrecht) in die Situation, und empfiehlt einer notorisch naseblutenden Kollegin, ein Tuch zu benutzen. Der Ton wird zunehmend scharf, Masken fallen, Bösartigkeit greift Raum, surreale Traumsequenzen und exzellent beknackte Tanzeinlagen bündeln das Absurde in dem Psycho-Kammerspiel. Spektakulär die Selbstbefreiungssequenz der Elisabeth gegen Ende, eine laute, expressionistische Zumutung, die einen in Scherben legt, weil sie das soll.
Elternabend hat in diesem Jahr die Goldene Kamera in Cannes für das beste Spielfilmdebüt gewonnen. Regisseur und Drehbuchautor Halfdan Ullmann Tøndel ist der Enkel von Liv Ullmann und Ingmar Bergman. Na guck.
Hin und zurück zur Natur
Segen der Erde heißt die Stummverfilmung von 1921 eines Romanklassikers des Norwegers Knut Hamsun von 1918, bildstark und wuchtig mit theaterischer Ausdruckskraft, in der farbig restaurierten Version. Gedreht hat ihn damals der Norweger Gunnar Sommerfeldt, einer der führenden dänischen Theaterschauspieler damals, der 1919/20 mit Borgslagtens Historie den ersten Spielfilm auf Island inszenierte, um später zum Dokumentarfilm zu wechseln.
Hier geht es um ein besitzloses Ehepaar, das sich aus eigener Kraft und Arbeit ein Heim in der norwegischen Wildnis baut und zu bescheidenem Wohlstand kommt. Als ihr drittes Kind mit einer Gaumenspalte geboren wird, tötet die Mutter es, um ihm soziale Deklassierung zu ersparen; sie selbst hat die gleiche Entstellung und weiß, was sie tut. Nach drei Jahren Gefängnis kehrt sie in ein modern gewordenes Zuhause zurück, an dem ihr nichts mehr vertraut ist. Schön ist, dass die beiden dann doch die Kurve kriegen dürfen, gemeinsam altern und ihre anderen Kinder verheiratet sehen können. – Den Film hat Thomas Mann nicht gesehen, aber die Lektüre von Hamsuns mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichneten Roman hat ihn begeistert und seinen „Zauberberg“ (1924) beeinflusst.
Gute 100 Jahre später, die Ausgangssituation ist umgekehrt; es geht um eine neue Wildnis, A New Kind of Wilderness, in der Doku der norwegischen Regisseurin Silje Evensmo Jacobsen über die Fotografin Maria, ihren Mann Nik und ihre drei Kinder, die auf einem Hof am Waldrand leben. Ihr Leben ist von Freiheit und Liebe zueinander geprägt, einem rückwärts gewandten Aussteiger-Klischee entspricht man nicht. Es gibt ein Auto und ein Musikabspielgerät, aber kein Computergeknatter, die Kinder werden zu Hause unterrichtet, haben meistens ein Tier im Arm, ein Huhn auf dem Schoß, manchmal eine Katze auf dem Kopf, und wenn geschlachtet wird, sehen sie sich – nach dem Tötungsakt – an, was so alles aus einem Bullen herausrutscht, wenn man ihn öffnet.
Selber machen, was geht, „und dem Planeten dabei so wenig schaden wie möglich“, so Mutter Maria aus dem Off. Als sie, die Zentralfigur dieses alternativen Wohn- und Lebensprojekts, mit 41 Jahren an Krebs stirbt, steht ebendas zur Disposition. Die aufrichtige Trauer der Familie und ihre schließlich erfolgreiche Suche nach einem neuen gemeinsamen Anfang ist empathisch, aus großer Nähe ohne Grenzverletzungen erzählt.
Peng
Was widerum aus einem 2-jährigen Giraffenbullen rauskommt, den man öffnet, konnte man sich 2014 ansehen, nachdem im Kopenhagener Zoo der junge Giraffenbulle Marius getötet worden war, um die genetische Vielfalt des Zuchtprogramms zu bewahren, und an die Löwen verfüttert wurde. Marius war einer zuviel, er war Überschuss, engl. surplus, ein üblicher Begriff aus der industriellen Warenproduktion. Die Zoo-Leute als Protagonisten der Maßnahme verwenden ihn bedenkenlos auch für das junge, gesunde Lebewesen, das zum Störfaktor erklärt, „entnommen“ wurde - abgeknallt.
Das sorgte international für einen Aufschrei, und wurde für den renommierten Dokumentar- und Spielfilmer Max Kestner (u.a. „Qeda“, 2017 bei den NFL) Aufhänger für einen Film über die naheliegende große Frage nach dem Sinn und Wert des Lebens, über Life and Other Problems, in anderen Worten.
Die meisten Gesprächspartner kommen aus der Wissenschaft, aus Ökologie, Evolution, Mikrobiologie und Neurowissenschaften, mit unterschiedlichsten Auffassungen, Vermutungen, Standpunkten, Perspektiven. Keine Besserwisser, Fachidioten und Arroganz, kein profilneurotisches Posing und kaum Fachjargon. Man will verstanden werden und zeigt Leidenschaft – einer nickt ohne Zögern, als Kestner ihn „hardcore scientist“ nennt.
„Ich glaube mit Sicherheit, dass jede einzelne Zelle ein eigenes Bewusstsein hat“, sagt ein ein indischer Wissenschaftler, der seit Jahrzehnten das Verhalten einzelner Zellen und ihre Interaktion mit anderen beobachtet. Kestner aus dem Off, mit kindlicher, neugieriger Attitüde, fragt immer nochmal nach: „Sicher. Pilze kommunizieren ja auch.“ Ein chinesischer Kollege mit einem schlammigen, breitköpfigen Salamander von 1m Länge ist vom Leben als Zufallsprodukt überzeugt.
Der Kopenhagener Zoodirektor, wie immer man zu dessen Entscheidung über das Leben der Giraffe steht, ist ein Mensch mit Rückgrat, der zu seiner Verantwortlichkeit stehen kann. Einen BBC-TV-Interviewer, der ihn mit ethisch-populistischer Empörung konfrontiert statt sachlich zu befragen, hebelt er mit zwei kurzen Sätzen sachlich aus. Ein anderer Tierpark in Dänemark, der das Giraffen-“Baby“ gern genommen hätte, aber vom Kopenhagener Direktor abgewiesen wurde, stellte sich - nach der TV-Berichterstattung – als Präparate-Zoo heraus.
Eine wirkliche Antwort auf die große Frage versucht keiner der Scientisten, antwortet eher mit einer nächsten richtigen Frage. „Wir wissen ja nicht mal, wie ein Gedanke entsteht!“, so der hardcore scientist. Und wie kommt das Leben überhaupt zustande? Gibt es tatsächlich ein Bewusstsein? Organische Oberflächen jeder Art und Dimension in und um uns sind von Mikroben bedeckt, also – wessen Mikroben sind wir?
Ausnahme unter den Befragten ist ein Holzfäller mit unverschult dezidierter Sicht anstelle einer wissenschaftlichen Qualifikation. „Ja, natürlich hat ein Baum ein Bewusstsein“, erklärt er zwischen Motorsäge, Helm und Schutzbrille, und konstatiert, dass es stets wichtig ist, sich im Klaren darüber zu sein, was man wertschätzt. Ein Individualist jenseits des Rollenklischees.
Mit Life and Other Problems ist Max Kestner ein vielfältiges, verblüffendes Kaleidoskop über die Bedeutung unserer Existenz gelungen. Ein ziemicher Trip aus Realitäten, die wir mit uns herumtragen. Unaufdringlich präsentiert in seiner Genauigkeit, moralinfrei und unaufgeregt emotional mit feinkörnigem Humor. Gibt zu denken, fasziniert und sagt 'Aber'.