Premiere des 'Einheitsmenüs" am Grenzmuseum Schlutup, Foto: (c) Olaf Malzahn

UrbanProjection präsentiert das "Einheitsmenü"
Durch den Magen

„Einheitsmenü“ heißt das neue und aktuelle Projekt des Lübecker Kreativ-Kollektivs UrbanProjection (UP), ihr zehntes seit 2020, ein Spektakel aus Film, Theater und Kulinarik zu 35 Jahren Deutscher Einheit – eine Komödie und als solche bewährt beim Transfer substantieller Inhalte. Premiere war bei der launigen Jahrestagsfeier am 3. Oktober in der Grenz-Dokumentationsstätte in Schlutup, einem ehemaligen Zollhaus an der Mecklenburger Straße, an deren Verlauf man noch den Übergang in die jeweils andere deutsche Republik erkennen kann - kleiner Grenzverkehr ab 1972. Der perfekte Ort für den Anlass.

Und für den erzählerischen und dokumentarischen Ansatz, mit dem das UrbanProjection-Team – Andrea Bohacz, Christoffer Greiss, Mathias Hollaender – multimediale Aktionen mit mobilen oder stationären Projektionen und Videoinstallationen im Stadtraum veranstalten, für jedermann zugänglich, um zwischen dem Publikum und der Situation jeweils betroffener Menschen Brücken zu bauen und Verstehen zu erzeugen. Gern und meistens an ungewöhnlichen Aufführungsorten.

Stefan Heydeck und Cathrin Bürger, Foto: (c) Olaf MalzahnStefan Heydeck und Cathrin Bürger, Foto: (c) Olaf Malzahn

„slut up!“, hochdt.: Schließt auf!“, steht auf dem Gedenkstein vor der Grenz-Erinnerungsstätte; am 3. Oktober 2025 stand da ein Wochenendhäuschen, das den öffentlichen Platz zum Spielort machte: In Wirklichkeit die 1:1-Projektion einer Datsche als Bühnenhintergrund, vor dem Schauspieler*nnen in den Außenszenen live agieren. Die Innenszenen in der Küche sind vorproduzierte Kurzfilme, die zeitgenau abgefahren werden. Ein neues hybrides Format beim UP-Kollektiv, in dem Film, Theater und Interaktion mit dem Publikum sich verbinden.

Ein ausformuliertes Drehbuch gab es nicht. Ablauf, Storyline und der prinzipielle Inhalt der Dialoge waren klar, auf genauen Wortlaut verzichtete man. Die Schauspieler*nnen improvisierten bei den Dreharbeiten, live im direkten Kontakt mit dem Publikum ohnehin und sowieso, rumpeln lustig durch Momente und ernste Hintergründe, um endlich in die dampfenden Töpfe zu verbringen, was vorher beherzt geschnippelt wurde. Es wird gekocht, die Familie rückt an – eine hybride Gemeinschaft aus Ost- und West-Leuten.

In der Küche, Foto: (c) Olaf MalzahnIn der Küche, Foto: (c) Olaf Malzahn

Eine zwischen Obstbowle und Papis (Stevie Heydeck) Rotwein hingeschmissene Masse aus Tomaten, Zwiebeln und mitsamt Erde ausgetopften Gewürzpflanzen erscheint, die Zusehenden ekeln sich begeistert. Die erwachsene, vegetarisch verortbare Tochter (Dora Fischer) bedeckt enorme splitternackte Brathähne im Kühlschrank mit Stofftüchern, um mit ihrer Mutter (Cathrin Bürger) augenrollend den unter Sekt und Bier politisierenden Familienmitgliedern im Garten zuzuhören. Großvater Jochen z.B., mit langem „O“, der an einer post-traumatischen Verbitterungsstörung leidet. (Es sprechen: Rodolphe Bonnin vom tribüHne Theater, Schauspieler Florian Selke, Erzählerin Birte Bernstein und Autorin/Regisseurin Lykke Langer).

„Klar ist, dass ein Projekt, das gratis im öffentlichen Raum stattfindet, möglichst viele Menschen mitnehmen und interessieren und dabei Informationen vermitteln soll“, sagt Andrea Bohacz, Leiterin und Initiatorin von UrbanProjection, deren Mutter und Großmutter '61 aus der DDR geflüchtet sind. „Mich haben bei der Recherche viele Berichte von Ostdeutschen nochmal schockiert, obwohl ich es ja selber mitbekommen habe. Ich wohnte 1987 bis 1990 in Berlin, unsere Familie hat all die Erfahrungen gemacht – Enteignung, Umsiedlung, nicht studieren dürfen, Flucht, von Null anfangen. Daher betrachte ich das Projekt auch als Experiment, das mittels des Sprungs der Protagonist*nnen zwischen Film- und Realebene und dem Voiceover der Schwiegereltern nebenan Irritation und auch Spannung erzeugt. Nicht belehrend, sondern erzählend, Klischees lassen sich kaum vermeiden und sind eben auch witzig. Schön, wenn man über sich selbst lachen kann.“

'Einheitsmenü' am Grenzmuseum, Foto: (c) Olaf Malzahn'Einheitsmenü' am Grenzmuseum, Foto: (c) Olaf Malzahn

Im Einheitsmenü ist also drin, was drauf steht. Und etwas mehr. Ja, es geht um's Essen. Um's Kochen. Um Sein und/oder Haben im Hüben und jeweiligen ex-Drüben. Um deutsch-deutsche Hindernisse auch 35 Jahre nach Wiedervereinigung. Das langsame Zusammenwachsen dessen, was zusammengehört und das Erkennen dessen, was davon doch nebeneinander bleiben muss, um sein zu können. Um eine BRDDR. Und ein neues Deutschland seit 1990. Um Rezepte, und wann sie fehlen. Sollten. Die Stimmung ist gut in Schlutup an diesem frühen Abend.

Weitere Vorstellungen finden statt, wenn's geht in jedem Fall bei jedem Wetter draußen. Termine siehe unten. Ein Steckrübeneintopf für alle vor und auf der Bühne bildet kulinarisch den letzten Teil des Spektakels, divers zubereitet von der Kochbuchbibliothek Lübeck mit Zutaten von Landwege, grenzübergreifend auch aus mecklenburgischen Erzeugerbetrieben, mit denen die Lübecker Bio-Ladenkette regulär zusammenarbeitet. Beide sind UP-Kooperationspartner bei diesem Projekt, das KoKi auch und schon seit Langem.

Stefan Heydeck und Cathrin Bürger, Foto: (c) Olaf MalzahnStefan Heydeck und Cathrin Bürger, Foto: (c) Olaf Malzahn

Mahlzeit!

Weitere Vorstellungen:
Fr. 17.10.2025 / 19 Uhr / Kleiner Fährplatz, Am Leuchtenfeld, 23570 Travemünde
Sa. 18.10.2025 / 19 Uhr / Bürgerhaus Falkenfeld-Vorwerk, Elmar-Limberg-Platz 6, 23554 Lübeck (Zum Herbstfest)
So. 09.11.2025 / 17 Uhr / Schrangen, 23552 Lübeck (Rahmenprogramm Nordische Filmtage Lübeck)

www.urbanprojection.de

Rolf Jäger
Rolf Jäger
Geb. 1958, freischaffender Teilzeit-Journalist im Großraum Kultur - Musik, Film, bildende Künste, Literatur. Professioneller Musikjournalist 1996-2006 (Intro, Jazzthetik, Rolling Stone, LN, Badische Zeitung u. noch paar a.m.), Kulturschaffender bei www.wolkenkuckucksheim.tv, Gitarrist seit kurz nach Konfirmation.

Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.