Insgesamt 17 Spielfilme standen dieses Jahr auf dem Programm der 58. Nordischen Filmtage zu Lübeck und bewarben sich um die verschiedenen Filmpreise. Wie selten zuvor, war es den Programmmachern diesmal gelungen, einen außerordentlichen Jahrgang an guten und sehr guten Spielfilmen aus den skandinavischen Ländern, dem Baltikum und Polen zu präsentieren. Ich konnte insgesamt 11 dieser Filme sichten und hatte keine Niete dabei.
Mein persönlicher Favorit, der isländische Film Herzstein von Gudmundur Arnar Gudmunsson gewann sogar den großen NDR-Filmpreis. Und das mit Recht, denn sein anrührender und in starken Bildern vom Suchen und Finden der Liebe zweier 14-jähriger Jungen im abgelegenen Fischerdorf ist ganz großes Kino zu kleinen Produktionskosten. Die beiden Freunde müssen um ihre Freundschaft kämpfen, auch wenn die Eltern (der prügelnde und saufende Vater von Kristján und die überforderte allein-erziehende Mutter von Thor) wenig bis gar keine Hilfe sind. Auch die gleichaltrigen Jugendlichen machen sich durch Mobbing und fiese Späße eher zu Gegnern. Aufkeimende Sexualität oder gar Homosexualität bleiben in dem kleinen Fischerdorf am Rande der Welt natürlich kaum verborgen. Wie man erwachsen wird in diesem gottverlassenen Ort, in dem das Anderssein eine schwere Last ist, beschreibt der wunderbare Film in kluger Weise und mit hervorragenden Schauspielern.
Ein weiterer Film aus Island gehört zwar in ein gänzlich anderes Genre, ist aber nicht minder sehenswert. Der zur Zeit wichtigste Regisseur dieser nordischen Insel, Baltasar Kormákur, der auch die Hauptrolle in seinem spannenden Psycho-Thriller Der Eid spielt, hat einen bis zum Ende durchgängig mitreißenden Film geschaffen. Es geht um eine Vater-Tochter-Geschichte, um den Drogensumpf und den hypokratischen Eid eines Mediziners. Um seine volljährige Tochter vor einem fiesen Drogendealer zu schützen, greift der Chirurg-Vater zu drastischen Mitteln und Selbstjustiz, die mit seinem medizinischen Eid kaum vereinbar sind. Ein heftiger und spannender Krimi der Extraklasse, der schon demnächst auch in die deutschen Kinos kommt.
Dass dänische Filmemacher auch gerne für ihr Land unangenehme Themen aufgreifen, beweist erneut der italienisch-stämmige Regisseur Nicolo Donato. Hatte er vor Jahren schon mal das Thema Homosexualität in der Naziszene am Wickel, beschreibt sein neuestes Werk Die Vögel über dem Sund ein anderes Tabuthema in Dänemark. Es geht um Judenverfolgung und Kollaboration während der Nazizeit um 1943. Der jüdische Jazz-Musiker Arne führt ein unbeschwertes Leben mit Frau und Kind in Kopenhagen. Die dänische Regierung, die von den deutschen Besatzern Eigenständigkeit zugesichert bekommen hatte, konnte ihre jüdischen Mitbürger lange Zeit vor Deportation schützen.
Doch dann muss die kleine Familie Hals über Kopf flüchten und entkommt der SS zunächst nur ganz knapp. Sie versuchen per Boot über die Ostsee nach Schweden zu gelangen. Die dramatische Flucht durch Wälder bis an die Küste ist entbehrungsreich und gefährlich, denn man weiß nicht mehr, wem man vertrauen kann. Dänische Nazianhänger und geldgierige Fischer stehen freundlichen und hilfsbereiten Mitbewohnern gegenüber. Das eindringliche Drama, das auf historischen Ereignissen beruht, bedrückt und rührt zu Tränen. Ein wichtiger Film zur Aufarbeitung, der einen Preis verdient gehabt hätte.
Ein weiteres Sozialdrama aus Dänemark, Der Tag wird kommen, von Jesper W. Nielsen wurde bereits auf „unser Lübeck“ vorgestellt und konnte bei der Preisverleihung am Samstag den Publikumspreis entgegennehmen. Sehr verdient.
Von ganz anderem Kaliber, aber nicht weniger schlecht, ist der schwedische Weihnachtsfilm Eine schöne Bescherung unter der Regie von Helena Bergström. Es handelt sich um eine turbulente, äußerst witzige Komödie mit ernsthaftem Hintergrund. Es geht um Anerkennung von Andersein, Toleranz und familiären Zusammenhalt. Simon und Oskar sind schon seit Jahren ein Paar und wollen mit der gemeinsamen Freundin Cissi ein Kind zur Welt bringen. Dieses versuchen sie ihren durchgeknallten Familien ausgerechnet zu Weihnachten schonend beizubringen.
Homophobie, Rassismus und Islamfeindlichkeit spielen neben Homosexualität und Kinderwunsch die wichtigsten Rollen in diesem rasanten Film, der die Lacher seiner Besucher von Anfang an auf seiner Seite hat, ohne zu denunzieren. In schnellen Schnitten wird eine wilde Geschichte erzählt, die immer mal wieder zu kippen scheint und sich nebenbei auch noch über schwedische Weihnachtsrituale lustig macht. Ein Film, der schon demnächst mit vielen Kopien in die deutschen Kinos kommt, rechtzeitig zur Weihnachtszeit!
Das Filmland Estland ist normalerweise nicht als Topadresse für große Spielfilme bekannt. Dieses Jahr wurde man aber eines Besseren belehrt. Mit Mutter von Kadri Koussar kam ein kleiner, aber feiner Film, der als Crime-Komödie bezeichnet wurde, zur Aufführung. Angelehnt an typisch skurrile nordische Filme der Nachbarländer Finnland oder Norwegen, konnte man einen originellen und clever verstrickten Film besichtigen, der den Betrachter bis zum Ende im Unklaren lässt, wer denn nun den Lehrer Lauri angeschossen hat und wo das ganze Geld abgeblieben ist, das er kurz vorher von der Bank abgeholt hat. Dieser witzige kleine Film ist dieses Jahr Estlands Kandidat für den Auslands-Oskar in Hollywood.
Weitere sehenswerte Filme, wie das Mittelalterdrama um Hexenverfolgung im 17. Jahrhundert Des Teufels Braut von Saara Cantell aus Finnland oder der preisgekröhnte Schwarz-Weiß-Film Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki, ebenfalls aus Finnland, sollten ihren Weg in die deutschen Kinos finden. Außerordentlich spannend fand ich außerdem den norwegischen Beitrag Rache von Kjersti Steinsbö. Dieser nervenzerreißende Thriller spielt in wunderschönster Fjord- und Gletscher-Landschaft, ist aber ein hammerharter Film über sexuelle Übergriffe an Minderjährigen und ein Racheepos der bösen Art.
Dazu gab es noch Drogenkomödien wie Drifters aus Schweden und ein Eröffnungsfilm aus Norwegen mit Rosemari, der den Ansprüchen an einen Eröffnungsfilm der Nordischen Filmtage endlich mal gerecht wurde. Wie gesagt, ein starker Jahrgang. Bitte nächstes Jahr mehr davon, erhofft sich Holger Kistenmacher.