Die JazzBaltica ist vorbei: „So viele tolle Momente, internationale Sounds und Lebensfreude – JazzBaltica war wieder ein Fest!“ schwärmte Nils Landgren, der künstlerische Leiter, zum Abschluss und nahm sich zuvor die Zeit, beim offiziell vorletzten Konzert etwas länger im Hintergrund stehend zu lauschen.
Eben war er noch bejubelt worden für seine musikalische Auswahl und, so meine Vermutung, für seinen Drive, sein Charisma, seine Herzlichkeit und Wärme. Letztlich ist und bleibt er gleichfalls Musiker, der es liebt, immer mal sein rotes Horn zur Hand zu nehmen und da und dort ein paar Töne einzustreuen. Vielleicht hätte er es auch gerne bei diesem ganz besonderen Quartett, geformt aus zwei etablierten Duos, getan.
Nils Landgren auf der MainStage im Maritim Seehotel Timmendorf, Foto: (c) Nicolaus Fischer-Brüggemann
Für mich sind Les Égarés eine echte Supergroup mit einem ganz eigenen Sound; die Musik ist weder Jazz noch traditionell, weder klassisch noch avantgardistisch, sondern ein bisschen von allem zugleich und zeichnet Landschaften unterschiedlichster Couleur voller phantastischer Einfälle. Entstanden aus dem, was Jazz ausmacht, einem spontanen Zusammenspiel, beseelt von der Idee des Einander-Zuhörens und aus dem Moment zu agieren. Allein die Besetzung, Vincent Segal am Violoncello, Ballaké Sissoko an der Kora, Émile Parisien am Sopransaxophon und Vincent Peirani am Akkordeon machen diese Band außergewöhnlich; ich kenne kein anderes Quartett mit dieser Instrumentierung.
Les Égarés – die Verlorenen oder diejenigen, die sich verirrt haben – haben sich zum Glück der anwesenden Besucherinnen und Besucher des ausverkauften Konzertes gefunden, um auf Basis der west-afrikanischen Mandinka Kultur ebenso wie trancehaften Spiralstrukturen früher Weather Report-Aufnahmen Grenzen zu überschreiten und dann wieder zur musikalischen Heimat zurückzukehren. Die liegt, schwer überhörbar, bei dem seit vielen Jahren gemeinsam musizierenden Duett Parisien und Peirani in der französischen Musette Neuve-Kultur. Die zwei befreundeten Ausnahmemusiker wirkten wie eine Klammer des Quartetts und prägten über Spiel und Moderation den Fluss des Konzertes.
Les Égarés, Foto: (c) Nicolaus Fischer-Brüggemann
Parisiens Ton variierte zwischen langgezogen, klar, vibrierend und durchdrang ihn von den Zehen bis zu den Haarspitzen. Er spielte mit dem ganzen Körper, das Mundstück des Soprans im rechten Mundwinkel, die Wangen aufgebläht, so hielt es ihn bei seinen Improvisationen nicht mehr auf dem Stuhl. Alles war in Bewegung und drückte auch auf diese Art seine einzigartige Musik aus. Der sympathische Hüne Peirani, wie immer barfuß, im Spiel den Kopf hin- und herwerfend, Souverän über unzählige Knöpfe seines Akkordeons, zeigte mehrfach, dass er alles in einem ist, harmonische Rhythmusgruppe und Solist.
Segal, wie die zuvor Genannten mit dem Schalk im Nacken, erzeugte Töne, geschlagen, gezupft, gegeigt, aus seinem Violoncello, die klassische Musiker*innen vielleicht mit einem Stirnrunzeln zurück lassen würden; einfach virtuos normal zu spielen, war ihm bestimmt zu langweilig. Sissoko, Herr der 21-saitigen Kora, wie alle anderen mit flinken Fingern und großer Improvisationsfreude gesegnet, war für mich der würdige Ruhepol in dem wilden und bisweilen ausgelassenen Haufen von vier ganz besonderen Musikern, die durchaus wussten, wer sie waren.
Ballaké Sissoko an der Kora, Foto: (c) Nicolaus Fischer-Brüggemann
Basierend auf der gegenseitigen Inspiration mittels Klängen und Kulturen erzählte die Band Geschichten unterschiedlicher Völker und Wesenszustände. Alles zusammengefasst in komplexe, bisweilen vertrackte Arrangements, fast wie für eine vierköpfige Big Band. Detailliert angeordnete Unisoni mündeten in wie wilde Flüsse sprudelnde Soli, die wieder zusammenflossen und sich über ein breites Delta in ein großes, ruhiges Meer ergossen. Ein Meer aus einer Mixtur folkloristischer Einflüsse und unterschiedlicher Spielarten des Jazz. Eigentlich muss ich nicht erwähnen, dass das Publikum regelmäßig in Begeisterungsstürme ausbrach und Les Égarés nicht ohne Zugabe und (wieder einmal) Standing Ovations von der Bühne ließ.
Laut Presseerklärung waren rund 19.000 Besucherinnen und Besucher vom 26. bis 29. Juni beim langen JazzBaltica-Wochenende in Timmendorfer Strand dabei – und genossen vier Tage voller Musik, kuratiert vom »König der Herzen« (Zitat Katja Riemann) Nils Landgren. Viel Begeisterung rundherum! Neben den von mir besprochenen Konzerten Highlights mit Michael Wollny, Tim Lefebvre und Eric Schaefer, ein faszinierender, junger wie musikalisch reifer Nachwuchs namens Shuteen Erdenebaatar Quartet …
Vincent Segal und Émile Parisien/ Les Égarés, Foto: (c) Nicolaus Fischer-Brüggemann
Darf ich trotzdem etwas wünschen? Ich mache es einfach mal: Wie wäre es, wieder etwas mehr zum Ursprung zurück zu kehren: Musiker*innen, vielleicht mal ein paar abseits der ewigen Wiedergänger der ACT-Family (so großartig diese auch sind), aus dem baltischen Raum treffen zusammen mit Musiker*innen aus dem Mutterland des Jazz, fordern und befruchten sich gegenseitig und formen neue Klangräume. In dem Sinne vielleicht auch eine Wiederauferstehung des JazzBaltica-Ensembles und ein nächtlicher Raum ähnlich des Jazz-Cafés in Salzau, in dem Mythen geboren wurden.
Dann: Ein Instrument im Focus, das einen roten Faden vom Anfang bis zum Ende des Festivals spinnt? Und, wenn mir entgegnet wird, bitte kleinere Brötchen zu backen, zumindest die Doppelkonzerte stimmiger zusammenzusetzen, die Lüftung in dem akustisch hervorragendem Konzertsaal etwas zu optimieren … ? Klar, muss alles nicht sein, das Festival ist bei vielen beliebt und finanziell erfolgreich und über den Magier Nils habe ich ja schon ein paar Worte verloren.
Les Égarés, Foto: (c) Nicolaus Fischer-Brüggemann
JazzBaltica 2026 wird wieder in Timmendorfer Strand stattfinden, die Karten wieder schnell vergriffen sein. Seien wir gespannt. (Text: Karin Brüggemann und Nicolaus Fischer-Brüggemann)
Fotos: (c) Nicolaus Fischer-Brüggemann