Doris Salcedo mit erster Einzelausstellung in Deutschland, Foto: Holger Kistenmacher

Großartige Kunst von internationalem Renomme in der Kunsthalle St. Annen
Doris Salcedo "Tabula Rasa" - Gewalt und Hoffnung

Mit der Auszeichnung der kolumbianischen Künstlerin Doris Salcedo wird erstmals der Possehl-Preis für Internationale Kunst am 07. September 2019 in Lübeck vergeben. Zeitgleich mit der Preisübergabe (25.000 Euro) am Samstag eröffnet die international renommierte Künstlerin ihre erste Einzelausstellung in Deutschland in der Kunsthalle St. Annen.

Die 1958 in Bogotá/Kolumbien geborene Konzept-Künstlerin stellt normalerweise in London, New York, Madrid oder Sao Paulo aus. Dementsprechend sind die Kuratoren Dr. Antje-Britt Mählmann (Leiterin Kunsthalle St. Annen) und Dr. Oliver Zybock (Overbeck-Gesellschaft) besonders stolz darauf, dass es durch die Neuschaffung des Kunstpreises gelungen ist, eine der besten „Künstlerinnen der Gegenwart“ nach Lübeck zu holen. Verantwortlich dafür war eine international besetzte Jury, die das „poetische Werk von Doris Salcedo, welches sich mit politischen Herrschaftsverhältnissen, Rassismus und systematischer Ungleichbehandlung befasst und von höchster Relevanz für die Gegenwart sei“ aus neun Mit-Nominierten mit großer Mehrheit ausgewählt hatte.

Doris Salcedo in der Kunsthalle St. Annen in LübeckDoris Salcedo in der Kunsthalle St. Annen in LübeckDie äußerst sensibel, akribisch und politisch agierende Künstlerin hat insgesamt fünf Werkgruppen/ Installationen mit nach Lübeck gebracht. Dabei handelt es sich um Objekte, Skulpturen und große ortsspezifische Groß-Installationen. Die Inhalte der Arbeit beziehen sich dabei immer auf Gewalt und deren Folgen. Dafür arbeitet die sehr ernsthafte und disziplinierte Künstlerin im Vorfeld immer mit den Opfern, indem sie Interviews, Gespräche und Recherchen betreibt und häufig auch Menschen, die Gewalt erfahren haben, in den Prozess der künstlerischen Bearbeitung integriert. Gleichzeitig wird aber auch immer der Raum mit in die künstlerische Auseinandersetzung einbezogen.

Besonders deutlich wird das bei ihrer aktuellen Arbeit, die sie in der Nähe des Präsidenten-Palastes in Bogotá geschaffen hat, wie Oliver Zybock, der die Künstlerin im April in ihrer Heimat besuchen durfte, zu berichten wusste: „Dort werden Waffen wortwörtlich mit Füssen getreten“. Er sei zu Tränen gerührt gewesen, als er die Arbeit gesehen habe. Doris Salcedo hat dort mit Opfern des jahrzehntelangen Bürgerkrieges einen Fußboden für ein neues Museum geschaffen, der aus eingeschmolzenen, von der linken Guerillabewegung FARC abgegebenen Waffen besteht. Das Einschmelzen reichte Salcedo bei weitem nicht aus. Um die Tragweite des Projektes noch deutlicher zu machen, lud sie Frauen ein, die während des Konflikts systematisch missbraucht wurden, die 37 Tonnen schweren Platten durch Hämmern mit „Kriegsverletzungen“ zu versehen. Dieses als Gegendenkmal bezeichnete Werk schafft einen Dokumentationsraum, der sowohl die Gewalt aus Bürgerkrieg, Folter und Verfolgung verurteilt, aber auch Hoffnung auf Frieden und Wiedergutmachung geben soll.

Ähnlich dürfte es auch Besuchern der Schau in der Kunsthalle in Lübeck ergehen. Die fünf dort gezeigten Arbeiten, die die Künstlerin mit ihren Mitarbeitern und der Belegschaft des St. Annen-Museums in tagelanger akribischer Detailarbeit installiert haben, handeln von Schmerz, Gewalt und Zerstörung. Seit 16 Tage sei sie bereits in der Stadt, um die großartige Schau vorzubereiten.

Doris Salcedo: Plegaria MudaDoris Salcedo: Plegaria Muda

Die Werkreihe „Tabula Rasa“, die auch der Ausstellung ihren Namen gegeben hat, setzt sich künstlerisch mit Vergewaltigungen auseinander, die viele Frauen während des kolumbianischen Bürgerkriegs und der bis heute anhaltenden Gewaltherrschaft erlitten haben. Zu sehen sind scheinbar schäbige alte Holztische, die als Symbol für Leben und Wohnen dienen. Diese wurden zerstört und in einem kleinteiligen künstlerischen Arbeitsprozess mit Leim wieder zusammengesetzt. Als Metapher stehen diese "Alltagsobjekte der Vernichtung" dafür, dass einmal begangene Gewalt nicht wieder rückgängig gemacht werden kann, trotz größter Akribie und Sorgfalt.

Trotzdem schimmern aus ihren Arbeiten auch immer wieder kleine Fünkchen Hoffnung. So zum Beispiel in der Installation von übereinander gestapelten Tischen, die wie Särge daherkommen, aus deren Spalten aber zarte Gräser wachsen. „Plegaria Muda“ (Stilles Gebet von 2008 – 2010) gilt den Opfern der Bandenkriminalität in Los Angeles, USA und ihren Familien, über die Doris Salcedo lange recherchiert hat. Diese Banden gelten als missachtete Randgruppen, die sozial geächtet werden und deren Toten kaum Beachtung finden. Natürlich verdienen ihre kriminellen Machenschaften eine Verurteilung, aber trotzdem stehen sie als Symbol für eine soziale Ächtung, die eine Gesellschaft spaltet. Salcedo betont mit dem Arrangement als symbolisches Massengrab die Wichtigkeit einer angemessenen Bestattung der Opfer. Zwischen dem stehenden und dem umgedrehten Tischen ist Erde geschichtet, die durch Risse und Spalten zarte Gräser zum Wachsen bringt.

Doris Salcedo: A Flor de Piel IIDoris Salcedo: A Flor de Piel II

Ein weiteres Beispiel wie symbolhaft und durch Metaphern überhöht Doris Salcedo gegen die Anonymität von Tod und Gewalt künstlerisch vorgeht, belegt ihre Arbeit „A Flor de Piel II“, was übersetzt soviel wie „Gefühle öffentlich zur Schau tragen“ bedeutet. Es handelt sich um einen wunderschönen Rosenblattteppich, der aus zusammengenähten, tausenden, konservierten Rosenblättern besteht. Die fragile Schönheit und die zarten Strukturen der Blätter stehen für den geschundenen Körper und die Haut des Opfers. In diesem Fall bezieht sich die Künstlerin auf die reale Geschichte einer kolumbianischen Krankenschwester, die nach einem beschwerlichen Leben entführt und zu Tode gefoltert wurde. Liebe und ein angemessenes Toten-Ritual sprechen aus diesem Leichentuch.

Ähnlich filigran und verletzlich wirken die aus Nadeln und zarter Seide gefertigten Stoff-Arbeiten „Disremembered“ von 2014/15, die an das Leid und den Verlust von Menschen erinnern sollen. Ein gesellschaftlicher Mangel an Empathie der Gesellschaft für Mütter, die ihre Kinder durch Waffengewalt in den USA verloren haben, sind die inhaltliche Grundlage dieser blusenartigen Objekte. Schön, aber auch gefährlich wirken diese Stoffe, die sowohl Schutz wie auch Verletzung bedeuten können. Alle ihre Objekte sind zwar fragil und zerbrechlich, trotzdem strahlen sie Hoffnung aus, auch wenn der Friedensprozess in ihrer Heimat gerade einen Rückschlag erlitten hat.

Doris Salcedo: DisrememberedDoris Salcedo: Disremembered

Auf meine Frage nach der aktuellen Einschätzung von ihr zur momentanen Situation in Kolumbien, nachdem zwei führende FARC-Aktivisten gerade per Video eine Wiederaufnahme des Bürgerkriegs aus Enttäuschung gegenüber der rechtsgerichteten neuen Regierung erklärt hatten, sagte sie: Die Situation sei sehr komplex in ihrer Heimat. Einerseits seien nur 25 Prozent der ehemaligen FARC-Kämpfer zum Kampf bereit, während 75 % ihre Waffen niedergelegt hätten, um sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Außerdem sei der Bürgerkrieg an die Peripherie des Landes, zum Beispiel an die Grenze nach Venezuela ausgewichen. Gleichzeitig weigern sich weiterhin viele Großgrundbesitzer, die absolut notwendige Bodenreform und Umverteilung des Landes umzusetzen. Auch die neue rechtsgerichtete Regierung blockiert zur Zeit mit ihrer konservativen Politik einen Fortschritt der Entwicklung zu Frieden und Aussöhnung. Darüber hinaus sei der Anbau und Schmuggel von Drogen ein weiteres riesiges Problem. Trotzdem bleibt Doris Salcedo zuversichtlich, dass sich in ca. drei Jahren eine neue liberalere Regierung an die Macht wählen lassen könnte, weil die Bevölkerung erkannt hat, dass ein Frieden und eine positive Entwicklung in ihrer Heimat möglich sind.

Genau so hoffnungsvoll und zuversichtlich kommt ihre oft sehr schwere und Gewalt getränkte Kunst daher. Es lohnt sich immer zu kämpfen, besonders mit den hervorragenden künstlerischen Mitteln, wie es diese außergewöhnliche Künstlerin aus Kolumbien tut.

Preisverleihung und Vernissage: Doris Salcedo - "Tabula Rasa".
Erste Preisträgerin des Possehl-Preises für Internationale Kunst
Samstag, 7. September 2019 um 19 Uhr
Kunsthalle St. Annen, Lübeck

Doris Salcedo - "Tabula Rasa"
Ausstellung vom 8. September bis 3. November 2019
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr
Kunsthalle St. Annen, Lübeck

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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