Ab geht die Post: Dr. Thomsa und Dr. Motte heizen ein

Vernissage zur Ausstellung „Grass TANZBAR“ in der Kulturwerft Gollan
Wie Günter Grass Lübeck zum Tanzen bringt

Zum Ende der äußerst vielschichtigen und wunderbaren Eröffnungsveranstaltung zur neuen Schau im Günter Grass-Haus wurde es laut, sehr laut. Dr. Motte, der Gründer der Berliner Love Parade und Dr. Jörg-Philipp Thomsa, Leiter des Grass-Hause heizten dem vollen Saal in der Gollan-Werft mit harten Techno-Beats richtig ein. Da tanzten Jung und Alt, Kulturpublikum und Honoratioren. Gründe dafür gab es genügend, denn der eigentliche Gastgeber, unser beliebter Gesamtkünstler Günter Grass, war nicht nur ein Literat, Zeichner und Bildhauer, sondern auch ein wahrer Tanzbär.

Schon in jungen Jahren tanzte er nach dem 2. Weltkrieg gegen die „Schwere der Zeit“, wie die Kuratorin Katrin Wellnitz im Vorfeld erklärte. Sie und ihre Kollegin Julia Wittmer, die gemeinsam mit Dr. Jörg-Philipp Thomsa die aktuelle Schau erarbeitet haben, waren zunächst sehr überrascht, wie vielfältig die Beziehung von Günter Grass zum Thema Tanz war. Nicht nur war er in erster Ehe mit Anna Schwarz, einer Ballett-Tänzerin, die Ausdruckstanz bei Mary Wigman studiert hatte, verheiratet, sondern begann selbst, über Tanz und Ballett zu schreiben und zu zeichnen. Bei seiner Ehrung mit dem Literatur-Nobelpreis tanzte er hinterher mit seiner Tochter oder zeigte auch dem Literatur-Kritiker Dennis Scheck bei dessen Besuch im heimischen Behlendorf, wie man den Schieber tanzt. Das alles ist auch in Form von Videos in der Ausstellung zu sehen.

Kuratorin Katrin Wellnitz erklärt die frühen Jahre des tanzwütigen GrassKuratorin Katrin Wellnitz erklärt die frühen Jahre des tanzwütigen Grass

Die Ausstellung in der Glockengießerstraße ist dementsprechend in drei Blöcke eingeteilt: „Eine tanzwütige Zeit“, „Der Mensch als Tanzmaschine“ und „Letzte Tänze“ analog zu den Lebensstationen von Günter Grass. In den tanzwütigen Nachkriegsjahren durchtanzte Grass, geführt von „vereinsamten Soldatenbräuten“ ganze Nächte. Inspiriert von Anna Grass schrieb Grass Ballettstücke, zeichnete und modellierte tanzende Figuren. Und natürlich tauchen immer wieder Tanzende in seinen Romanen auf. Im Roman „Hundejahre“ (1963) beschreibt er die immer komplexer werdenden mechanischen „Vogelscheuchen“, die in Perfektion tanzen, andererseits zum Abbild des nationalsozialistischen Menschen werden.

Und natürlich gibt es die berühmte Szene in der „Blechtrommel“, wo der kleine Trommler Oskar Matzerath die aufmarschierenden Nazis aus dem Takt und die Leute zum Walzertanzen bringt. Genau diese Szene wurde von den sogenannten „Spielkindern“ (Jennifer Ewert, Maja Beckmann, Charly Hübner, Lina Beckmann und Till Beckmann) auf der Bühne in der Gollan-Werft in verteilten Rollen und mit Trommeleinsatz spaßvoll gelesen. Die Schauspieler-Großfamilie war als Künstlerkollektiv für das Vernissage-Programm mit Lesung, Tanz, Humor, Musik und Seiltanz zuständig.

Die Spielkinder in AktionDie Spielkinder in Aktion

Mit sichtlich Spass trugen sie Gedichte (Es tanzt der Bär im Kreise und brummt dabei ganz leise), Kurzgeschichten (Gotthold Ephraim Lessing oder Else Lasker Schüler) oder Romanteile von Ralf Rothmann, dem lustigen Schriftsteller und Freund aus dem Ruhrpott, der aber gerne auch in Travemünde mit Blick auf die Ostsee seine Texte verfasst, zu hören. Und immer dreht es sich um Tanz. So zeigt Lina Beckmann ihrem Ehemann Charly Hübner auf der Bühne lässig, wie man Twist tanzt. Zum Text von Daniel Kehlmann (Tyll) werden dann die Worte sogar von der Seiltänzerin Ea Paravicini auf dem Drahtseil getanzt.

Dann wiederum erklärten die Macher der Schau ihre Ambitionen. Erstmals konnte der Designer und Ausstellungsmacher Matthias Kaminsky aus Berlin sogar mit der Bar auf einer Drehbühne so etwas in eine Schau integrieren. Die mehrere Tonnen schwere drehbare Bar soll Menschen zusammenbringen, um beim gemeinsamen Getränk (gesponsert von Völkel und Landwege) sich zu Grass und seiner Kunst auszutauschen. Fotos, Zeichnungen, Skulpturen und Videos zu allen möglichen tänzerischen Themen begleiten die hoch interessante Schau.

Museums-Chef von Stockhausen testet schon einmal die Drehbühnen-BarMuseums-Chef von Stockhausen testet schon einmal die Drehbühnen-Bar

Aber auch die politische Dimension von Tanz in ihrer Aktualität wird nicht ausgespart. So gibt es eine Filmcollage des Hamburger Künstlers Mikhele Apitzsch zu sehen, die die gesellschaftlichen Dimensionen aus aller Welt zeigen, aber auch die aktuellen Katastrophen und Dramen, wie den terroristischen Anschlag auf das Bataclan in Paris (2015), den bestialischen Überfall der Hamas auf das Tanz- und Musikfestival nahe dem Gazastreifen (7. Oktober 2023) und gerade aktuell, der islamistische Anschlag auf die Konzerthalle in Moskau (2024).

Love Parade-Gründer Dr. MotteLove Parade-Gründer Dr. MotteDabei sollten alle Veranstaltungen der Freude und dem Frieden durch Musik und Tanz dienen - genauso wie die Love Parade früher in Berlin. Das Techno-Festival, das von Grass in seinem Buch „Mein Jahrhundert“ beschrieben wird, wurde von Dr. Motte mit begründet. Auch das stand unter dem Motto „Liebe und Frieden“. Wie schon der Freund und Literaturpreisträger Salman Rushdie erklärte: „Das Vergnügen ist der Feind des Extremismus“ - also tanzt und feiert wie verrückt. Und somit schließt sich der Kreis an diesem Abend in der Gollan-Werft.

DJ Dr. Motte, dessen Love Parade gerade zum immateriellen Weltkulturgut erklärt wurde, legt in der Weltkulturstadt Lübeck auf und heizt den Leuten mit harten Techno-Beats ein und Lübeck tanzt. Günter Grass hätte das sicherlich gefallen, wie das ausverkaufte Vernissage-Publikum das Tanzbein schwingt.

Fotos: (c) Holger Kistenmacher

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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