Filmszene aus 'Garagenvolk', Foto: (c) TamtamFilm

62. Nordische Filmtage Lübeck
Wer wenn nicht. Rückschau Dokus.

Es gibt Dokumentationen, die so Überraschendes zu erzählen haben, dass die übliche Vorstellung von einer gänzlich bekannten Welt, in der wir leben, mit Lebensräumen, über die wir Bescheid wissen, in sich zusammensackt.

Der Kopf wird dann frisch, die Sicht wird hell im Dunkel des Lichtspielhauses. Denn zu kreativ, zu ungleich und zu zahlreich ist der Mensch, als dass definierte Kriterien in Kunst und Leben globale Relevanz haben könnten. In welchem System auch immer.

Raum

„Garagenvolk“ von Regisseurin Natalja Yefimkina, ausgezeichnet während der letzten Berlinale mit dem Heiner Carow-Preis (Regie) sowie dem Filmpreis 2020 der Werner Herzog-Stiftung, berichtet von russischen Männern, die sich der Korruption und Vervorschriftung durch die Politik entzogen haben und in ihren Garagen im Bergbaukonzernstadtrand Lebensraum finden.

Die Besonderheit des Ortes und die exzellente filmische Arbeit lassen ohne viele Worte verständlich werden, dass vieles wieder möglich scheint, wenn konsumgesellschaftübliche Gültigkeiten ausgehebelt, Improvisationstalent, Humor und Zähigkeit die Lebensmittel sind. Schrottsammler Ilja hat MS, nutzt die Garage als Werkstatt. Roman züchtet Wachteln. Schnapsbrennerei, illegaler Fischladen, Lager für Konsumgüter, Bandproberaum, Liebensnest. Jemand hat sich ein tiny Sportstudio eingerichtet, jemand anders hält einem Putin-Foto an der Wand eine Rede. Zwei junge Uniformträger proben im Gelände den bewaffneten Rechts-Putsch. Pavel schnitzt Heiligenfiguren, Viktor hat seine Garage in Jahrzehnten um vier unterirdische Stockwerke ergänzt: „Keine Ahnung, warum ich angefangen habe, zu graben, ich bin einfach meinem Herzen gefolgt.“ Ein umgekrempelter Bergsteiger. Der Blick auf die sozialen Verhältnisse im heutigen Russland, wie sie sich hier spiegeln, entsteht nebenbei.

Eine Nummernrevue der Freaks und Sonderlinge, wie man sie hier auch erwarten könnte, ist Natalija Yefimkinas Debütfilm dabei mitnichten. Im Gegenteil. Die subtile Art und Weise, mit der die Regisseurin und ihr Team jeden ihrer Protagonisten vorstellen, zeugt von Respekt und löst beim Zuschauer eher Interesse und Sympathie aus. „Garagenvolk“ trägt das Prädikat „besonders wertvoll“. Und ist es.

Horizontalperson

„Was kann ich tun, um diesen Raum menschlich zu gestalten, besonders zu machen?“, konstatierte einst der finnische Architekt, Stadtplaner und Möbeldesigner Alvar Aalto (1898-1976) sein Konzept. „Etwas tun, das modern ist, aber auch eine Kontinuität mit der Lebensweise etablieren, die Lebenssinn spendet. Sich inspirieren lassen von dem, was man vorfindet, Kreativität damit entwickeln.“ In seinem Film „Aalto“ porträtiert Regisseur Virpi Suutari diesen Vater der Moderne, als der er in seinem Land gilt, bildstark und mit großer Einfühlsamkeit als Künstler und unprätentiösen Visionär. Dass die Welt der Menschen ohne seinen Einfluss heute anders aussähe, ist unzweifelhaft. Dass gutes Design überdies auch für Leute mit kleiner Brieftasche erschwinglich zu sein hat, fand er selbstverständlich.

Beeinflusst vom Bauhaus und den Avantgardisten Frank Lloyd Wright (1867-1959, Guggenheim-Museum New York) und Le Corbusier (1887-1965, Corbusier-Hochhaus in Berlin), begann Aalto ab Mitte der 1920er Jahre, seine Perspektiven umzusetzen. Ein besonderer Fall der Einflussname sind die Umstände beim Bau des UN-Hauptquartiers am East River in New York City, einem der wahrscheinlich bekanntesten hohen Gebäude der Welt. Entworfen von einem internationalen Team unter Oscar Niemeyer und Le Corbusier ab '49, war Aalto zuständig für die Konferenzräume, wurde aber kurzfristig gefeuert. Wegen Kollaboration der Finnen mit den Nazis im Zweiten Weltkrieg, hieß es.

 Filmszene aus Aalto, Foto: (c) Euphoria FIlmFilmszene aus Aalto, Foto: (c) Euphoria FIlm

Als seriöse Begründung unglaubhaft und heuchlerisch. Schon 1943, nach Berlin zwangseingeladen von Albert Speer, der Aaltos Arbeiten als reichskompatibel betrachtete, hatte der es verstanden, sich in seiner Gastrede dem Regime bildstark zu entziehen: „Wir Finnen sind weder Nazis noch Bolschewiki. Wir sind Waldaffen aus dem Land der Eskimos.“ Den Zuschlag für die Gestaltung der Konferenzräume ging schließlich an US-Architekt Edgar Kaufmann Jr. - Sohn des Großunternehmers Edgar J. Kaufmann -, der sich hemmungslos an Aaltos Entwürfen gütlich tat, im eigenen Namen.

Die Credits für das Design der verwandten Textilanteile blieben rechtmäßig bei Elissa Aalto, zweite Ehefrau des Architekten, die, wie auch die erste, Aino, substanziell beteiligt war an den visuellen Ausformungen des Aalto-Œuvres. Beide Frauen waren Designerin, autonom und eigenverantwortlich in der kreativen Zusammenarbeit mit Aalto und litten unter der gesellschaftlichen Ignoranz gegenüber den Frauen jener Tage. Der Ehemann hat beide stets als gleichwertige Partnerinnen bezeichnet und betrachtet. Das familiäre Zusammenleben mit dem Bohémien Aalto war weniger einfach; die vorbehaltlose ehrliche und zärtliche Liebeskorrespondenz widerum zwischen Aino und Aalto ist bewegend und zeigt, was Liebe zu tragen imstande ist. Ein paar der off camera vorgelesen Auszüge versieht der Regisseur mit bestechend schönen Aufnahmen von sich öffnenden Blumenblüten, Blättern und Stielen, die im Zeitraffer anmutige und schlüssig erscheinende Bewegungsabläufe zeigen, wie sie in ihrer realen Langsamkeit vom menschlichen Auge nicht identifiziert werden können.

Die zwei Paare setzten Maßstäbe in allen Bereichen des menschlichen Alltags, wo, womit und worauf die Menschen leben und arbeiten, wo sie ihre Stifte und Blumen hineinstellen und sich selbst positionieren. Hybridgebäude aus Holz, Beton, roten und gelben Ziegeln, anatomisch geformte Handläufe von Treppengeländern, dickwandige Glasvasen in Wellenform (finn. aalto = Welle), Teewagen, Freischwinger-Stühle, Hocker, Lampen. Ein Großteil des IKEA-Angebots basiert auf Kopien ihrer Originale. 1935 entwickelte Aalto das L-Leg, ein unterschiedlich flexibles Tisch-/Stuhl-/Sesselbein aus mehreren Schichten verleimter, dünner Holzleisten in Form des abgerundeten Großbuchstaben L, bis heute in unterschiedlichen Längen an unterschiedlichsten Sitzgelegenheiten in unterschiedlichsten Räumen und Anlässen zu finden.

Die Liste von Gebäuden des Architekten ist lang und international finnisch. Die kühl hingestreckte Universität von Aaltos Heimatstadt Jyväskylä (Mittelfinnland) und das Aalto-Museum in der Innenstadt. Die Finnlandia-Halle in Helsinki. Die Kirche Santa Maria Assunta im italienischen Vergato. Das Kunstmuseum Aalborg (DK), die Bibliothek des Mount Angel Benedictine College in Oregon (USA). Das Wohnhochhaus Schönbühl in Luzern (Schweiz), die Stephanuskirche und das Rathaus in Wolfsburg. Die Frontseite des Lübecker Hansemuseums in seiner hellen, burgmauernartigen Geschlossenheit trägt Spuren aus Aaltos Spätphase. Beim Entwurf des TBC-Sanatoriums im finnischen Paimio stellte Aalto konsequent die zumeist liegende Position der Patienten und ihre entsprechende visuelle Wahrnehmung in den Mittelpunkt und entwickelte eine Klinik „for a horizontal person“.

Ton-, Film- und Fotomaterial, Statements von internationalen Experten historisch, wissenschaftlich und künstlerisch kommentiert und untermauert, erzählt die Kamera in ruhigen, fließenden Bildern Formen, Aspekte, Umrisse, Fronten der Objekte nach, macht Ideen erkennbar, Ergebnisse fühlbar, öffnet Häuser und Räume, deren Wände im reflektierten Tageslicht ihre Eindeutigkeit verlieren. Menschgemachte Räume, in denen Natur sich fortsetzt. Zukunft durch Gegenwärtigkeit. Sehr große Kunst.

Fremd

Lebensraum ist auch für Alissija aus ärmlichen Verhältnissen in der estnischen Kleinstadt Valga ein Thema, einer sympathischen jungen Frau, die Lebensfreude und Kraft ausstrahlt, ohne sich dessen bewusst zu sein. „Das Leben hat mich Leiden gelehrt“, sagt die 22-Jährige, und erfährt durch TV und Internet von einem kulturellen Experiment zur Frage, ob die Kunst ein Leben ändern kann. Der Deal: Innerhalb eines Jahres 224 Theateraufführungen sehen, bei Komplettfinanzierung durch das Projekt, und im Blog besprechen. Dass sie zudem noch nie ein Theater von innen gesehen hat, macht sie zur idealen Probandin für „Ein Jahr voller Drama“. Im Folgenden findet sie sich - resp. wir sie - an unterschiedlichsten Spielorten und Genres wieder, sieht Klassiker und Performances, Tanztheater, Tragödien, Komödien, Kindervorstellungen etc., lächelt, applaudiert, hat die Stirne kraus und schläft auch mal ein. Mit Zelt besucht sie Theaterfestivals im ganzen Land, reflektiert das Bühnengeschehen zunehmend persönlich.

Filmszene aus 'Ein Jahr voller Drama, Foto: (c) Sigrid KuuskFilmszene aus 'Ein Jahr voller Drama, Foto: (c) Sigrid Kuusk 

Nach und nach entwächst die 22-Jährige einem Gefühlsleben, das Schnittnarben von Selbstverletzung auf ihrem Körper hinterlassen hat, und realisiert, dass sie ein eigenes Lebens besitzt, es leben und gestalten will. So unaufgeregt, wie Regisseurin Marta Pulk diese existenzielle Geschichte erzählt, kann der Zuschauer sich eingebunden sehen in diesen Prozess der Reflektion. Alissija, nach einem öden Kellnerjob knapp am Selbstentfremdungsrückfall vorbei, übernimmt schließlich die Regie. Wenn Sie verstehen... .

Weitere und perspektivisch überraschende Facetten der Ver-, Ent- und Befremdung gab es in den zwei Dokus der 4-teiligen Kurzfilmpackung „Nordic Shorts Programm #1: Entfremdung“. (Die zwei anderen sind Spielfilme: „Zorg II“, ein geordnet chaotischer Mehrfachsalto-Animationsfilm aus Fotos, Zeitungsschnipseln, Zeichnungen, Geräuschen und Musik über ein Alien auf Erden mit Hollywood-Ambitionen; „Krokodilstränen“ über ein Wiedersehen von Vater und Sohn nach 20 Jahren Schweigen, etwas vorhersehbar.) „Die Kommission“ (R: Vytautas Oškinis) sitzt in Litauen zusammen für die Verwaltung der litauischen Sprache. Eine seit Jahren sinnumstrittene Aufgabe mit kontroverser öffentlicher Auseinandersetzung über Gestalt und Erhalt der Sprache. Der Film gibt einen 11-minütigen Einblick in die Arbeitsatmosphäre der ca. 10 Kommissionär*innen, die unzählige singuläre, vokabuläre Entscheidungen mit Auswirkungen auf Alltag und Selbstverständnis des ganzen Landes zu bewältigen haben.

Filmszene aus 'Die Kommission', Foto: (c) Vytautas OskinisFilmszene aus 'Die Kommission', Foto: (c) Vytautas Oskinis

„Waste no. 4 New York, New York“ ist die Geschichte der „Potter’s Fields“ genannten Armenfriedhöfe von New York, in denen Namenlose, Alleinstehende und Verarmte ihre letzte Ruhe fanden. Erzählt von einer Frauenstimme in sachlichem Tonfall, vollzieht der finnische Regissuer Jan Ijäs gewissermaßen visuell-atmosphärische Zeitsprünge mit knitterigen, alt wirkenden s/w-Aufnahmen der jeweiligen Orte, wie sie heute aussehen. Das hilft, Bezüge zu schaffen zu den Verhältnissen, die historisch buchgeführt und abgesichert sind, z. B. Strafgefangene, die für Transport und Begräbnis herangezogen wurden, an sechs Tagen die Woche, für 50 Cents den Tag. Totgeburten und Kinder, die nicht älter als 5 Monate wurden und in schuhkartongroßen Kästen ordentlich in Massengräber gestapelt wurden, 1000 Stück pro Grube. Das einzige dieser frühverstorbenen Kinder, das allein in einem Einzelgrab liegt, wurde weit entfernt von den anderen begraben, 14 Fuß tief statt der üblichen 3 Fuß, weil es das erste Kind war, das HIV-positiv erkrankt geboren wurde und sofort starb, und man fürchtete, dass es die Kinderleichen in den Massengräbern mit dem Virus anstecken könnte.

Die thematische Einbindung des Areals Fresh Kills (niederl. Kil = Flussbett) hier scheint zunächst überraschend, da es sich dabei nicht um eine Ruhestätte menschlicher Leiber handelt, sondern um eine begrünte Mülldeponie, die über mehr Masse verfügt als die Chinesische Mauer und tatsächlich bis ins All sichtbar ist. 1948 als Teil eines Stadtentwicklungsplans eingerichtet, wuchs Fresh Kills in gut 50 Jahren zu einem der größten von Menschen erschaffenen Objekte aller Zeiten an. Dann: kontaminiertes Sickerwasser, Emissionen von 2650 Tonnen Methangas täglich. Die letzten Lieferungen vor Schließung der Deponie 2001 waren die Überreste des World Trade Centers nach den Anschlägen: 1,62 Mio. Tonnen Glas, Baustoffe, Inneneinrichtung, Fahrzeugteile, Kunst (im Wert von ca. $ 100 Millionen). Und schließlich - menschliche Überreste, die dort begraben wurden.

Filmszene aus 'Waste no. 4 New York, New York, Foto: (c) AV-arkkiFilmszene aus 'Waste no. 4 New York, New York, Foto: (c) AV-arkki

Rolf Jäger
Rolf Jäger
Geb. 1958, freischaffender Teilzeit-Journalist im Großraum Kultur - Musik, Film, bildende Künste, Literatur. Professioneller Musikjournalist 1996-2006 (Intro, Jazzthetik, Rolling Stone, LN, Badische Zeitung u. noch paar a.m.), Kulturschaffender bei www.wolkenkuckucksheim.tv, Gitarrist seit kurz nach Konfirmation.

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