Armut, Atommüll, Flucht, KI, Klima, Kriege, nix zu wohnen, politischer Rechtsrutsch in aller Welt. Wachsende Verunwertung des individuellen Lebens im Konsumismus und die Erkenntnis, dass es Kapitalismus mit menschlichem Antlitz garnicht gibt. Ach.
Dann – das Kino. Der Ort, an dem es dunkel wird, damit man sehen kann. Ein guter Ort. Wo Ängste und Irritation offener gelebt, geäußert werden, die im Alltag versteckt, seelisch verstoffwechselt werden wollen. Jeder von uns kennt das. Souveräne Pose als soziales Statussymbol. Hallonallesgut?!
Eine leichte Überschattung jener neo-hanseatischen Heiterkeit bei den diesjährigen 65. Nordischen Filmtagen gegenüber sonst ist wahrnehmbar, irgendwie. Wie auch nicht bei einem Filmfest, das die aktuelle Gegenwart reflektiert zur Ansicht stellt und in Beziehung setzt. Existenzielle Fragen einmal mehr. Weiterhin Emotion statt Zwecksarkasmus. Das Publikum ist da, präsent wie stets, lässt sich ein, mutet sich was zu, setzt sich auseinander.
„Terrorister“
Eine Doku aus 2003 über die Hintergründe der Ausschreitungen bei den Großdemonstrationen während des EU-Gipfels 2001 in Göteborg, die Aushebelung demokratischer Grundlagen und Kriminalisierung von Protestbewegungen. Hart, auch in der Produktion ungeschönt belassen, mitunter polemisch, ist es ein inhaltlich wichtiger Film zur Zeit, auch und gerade, weil er 20 Jahre nach Veröffentlichung immer noch von „alarmierender Aktualität“ sei, so Jörg Schöning, Kurator der Retrospektive der Filmtage, in der Anmoderation zutreffend. Dies ist alles so geschehen. Nichts davon war jemals in den Nachrichtensendungen der Welt zu sehen.
Wir lernen einige der jungen Aktivist:nnen kennen, die nach den Ausschreitungen als Terroristen angeklagt und verurteilt wurden: Sie sind keine und waren es nie. Dezidiert erläutern sie ihre Motive, formulieren differenziert Globalisierungskritik, äußern Sorge und Angst angesichts einer Wirtschaftsordnung mit neo-imperialistischen Ausprägungen und berichten von wiederholten Erfahrungen mit staatlicher Gewalt. Wache Demokrat:nnen. Einer davon der Sohn von Regisseur Stefan Jarl („Ich bin dein Krieger“), der Dinge von jenseits der medialen Berichterstattung zu berichten hatte, die seinen Vater und dessen Kollegen Lukas Moodyson („Lilja 4-ever“) in Bewegung setzten.
Monströse Fakten, immer seriös und nachprüfbar, die jede Unwahrscheinlichkeitsvermutung neutralisieren. Beim größten Teil des gezeigten Bildmaterials von der Straße handelt es sich um Videomaterial der Polizei, entsprechend gekennzeichnet. Zu sehen etwa, wie ein Schulgelände hermetisch mit Schiffscontainern abgeschottet wird, Ausgangsverbot für Schüler:nnen und Lehrkräfte. Eine Tanzparty, kleine Bühne, DJ, friedlich fröhlicher Teil der Demo, als die Tänzer langsam polizeilich eingekesselt, festgesetzt und provoziert werden von sehr viel Polizei mit Waffen, Schilden und scharfen Hunden. Demonstranten werden in die Enge genötigt, niedergeschlagen, mit verdrehten Körpern über das Pflaster in die Transportwagen geschleift, verhaftet. Bilder wie aus Richard Fleischers '71er SF-Klassiker „Soylent Green“ (dt. Titel: „2022 … die überleben wollen“). Die sauber durchgeführten, militanten Präventiv-Maßnahmen beim G8-Gipfel 2008 in Heiligendamm/Insel Usedom fallen ein, der Bürger als im Grundgesetz definierter Souverän einer Demokratie als Plage kaltgestellt. Eine Schuldvermutung. Wir müssen leider draußen bleiben.
Der post-Olof-Palme-Staat schlug zu, mit allen Mitteln und einem Budget in zweistelliger Millionenhöhe. Anlass? Keine offizielle Stellungnahme bis heute. Einer der Aktivisten vermutet, das Land, erst seit '95 in der EU und zögernd zunächst, wollte als Gastgeber einen guten Eindruck machen beim Gipfel, mehr Ordnung und Sauberkeit vermitteln als demokratisch möglich, und also von der Straße fegte, was störte. Ein Exempel. Ein Aktivist berichtet von einem Mädchen, das Angst bekam und einen Polizisten bat, gehen zu dürfen, der daraufhin mit dem Schlagstock zuschlug: „Sie war 14 Jahre alt, vielleicht 15.“
460 Demonstrierende wurden verhaftet, davon 60 wegen Unruhestiftung und Terrorismus angeklagt, insgesamt 45 Jahre Gefängnis vergeben (Stand 2003). Eine erschütterte Mutter erzählt vom einzigen (!) genehmigten Besuch bei ihrem Sohn im Gefängnis nach 6 Monaten Isolationshaft, wie ihr 19-jähriger Junge, 2m groß und völlig kaputt, sich bloß auf ihren Schoß setzte und weinte. Berichte über Gerichtsverhandlungen mit gestauchten Verteidigern machen sprachlos.
Jung
Unter der Überschrift „Schon immer jung“ gab es im Retrospektive-Programm skandinavische und baltische Filme zum Thema Jugendkultur der rund 100 letzten Jahre. Beginnend mit dem Stummfilm „Flickorna Gyurkovics / Die sieben Töchter der Frau Gyurkovics“ (1926 SWE/DEU, Regie Ragnar Hyltén-Cavallius), einer turbulenten, großartig gespielten und gestalteten Verwechslungskomödie um eine „flapper“, Begriff für eine junge aufmüpfige Frau, die sich mit Jazz, kurzem Haar und kurzen Röcken über die Konventionen hinwegsetzte. Live begleitet im Lichtspielhaus von Klarinettistin Lina Gronemeyer und Pianist Frederik Sturm.
Mit „Ung Flukt / Die jungen Sünder“ (Regie Edith Carlmar) erscheint 1959 die 21 Jahre junge Norwegerin Liv Ullmann in ihrer ersten Hauptrolle auf der Leinwand. Als 17-jährige Gerd gerät sie auf die sog. schiefe Bahn, geht nach Polizeigewahrsam mit dem Studenten Anders ein Holzhütten-Verhältnis auf dem Land ein, das funktioniert, bis ein Landstreicher eintrifft, der Gerd gefällt. Ullmanns aufreizende Pin-up-Posen neben Cola, Jeans und Jazz (Youthploitation!) polarisierten damals, die Osloer Tageszeitung „Verdens Gang“ fand „viel bedeutendere Mittel“ in Ullmanns Spiel, mit denen sie „wirken“ könne. Was sich dann ja auch als richtig erweisen sollte. Hallo Herr Bergman.
Eine ganz andere, titelgebende Liv trat '67 auf – „Liv / Das Mädchen Liv“ (Regie Pål Løkkeberg), über den das Wochenmagazin „Morgenbladet“ damals schrieb, er wirke „in unserer zurückgebliebenen Filmwelt demonstrativ modern.“ Mit offenem Ansatz nach etwa Godard und Antonioni erzählt der Film einen gewöhnlichen Tag des Fotomodells Liv in Oslo - Job, Wohnungswechsel, neuer Mann, entfremdeter Vater, viele Zigaretten. Gespielt wird sie von der 22-jährigen Vibeke Løkkeberg, Fotomodell auch im wirklichen Leben, in ihrer ersten Filmrolle. Kein Bio-Pic, aber vielleicht nah dran. Wer die verhuschte, verschlossene und sympathische Frau im Film ist, bleibt unklar, wohl auch ihr selbst. Für Darstellerin Løkkeberg widerum ebnete der Film den Weg zur engagierten Regisseurin und Autorin.
Kati Outinen, bekannt als Muse (?) des finnischen Regisseurs Aki Kaurismäki in Filmen wie „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“, „Juha“, „Lichter der Vorstadt“ u.a., wurde als 18-jähriges Mitglied einer Theaterlaienspielgruppe von Regisseur Tapio Suominen aus dem Stand für den weiblichen Hauptpart in „Täältä tullaan, elämä! /Ich pfeif auf eure Hilfe!“(FIN 1979) besetzt. Nicht weniger renitent als die Jungs, mit denen sie eine Beobachtungsklasse für verhaltensauffällige Schüler besucht, beginnt eine berührend inszenierte, unbeholfene Annäherung zwischen ihr und Jussi, die tragisch endet. Ein authentisches, packendes Sozialdrama um einen eigentlich kraftvollen, orientierungslosen Jugendlichen, atmosphärisch geprägt vom frühen Punk in Helsinki - u.a. gedreht in Kill City, einem legendären autonomen Kulturzentrum der Stadt - und den kaputten sozialen Hintergründen.
Ähnlich, was Generation, Thema und das ungute Ende betrifft, aber lockerer im Tonfall, ist „Piratene / Die Piraten“ (NOR 1983, Regie Morten Kolstad). Leicht komödienhaft in Phasen, bis in der tatsächlich letzten Einstellung vor dem Abspann das jugendliche Paar, durch den Hafen gejagt von Stadtoberen, Polizei und Eltern, plötzlich die Kontrolle über das Motorboot verliert, auf flach aufragende Felsen schlägt und explodiert. Erzählt – mit furchtbar authentischer Synthesizer-Filmmusik! – wird die Geschichte um einen Piratensender in einem kleinen Küstenort im nordnorwegischen Lofoten, den Jugendliche ungenehmigt installieren und betreiben, um ihre Musik zu hören, und mit subversiven Wortbeiträgen über ihre aussichtslose Situation und mit Forderungen die Besitzenden und Politiker des Ortes gegen sich aufbringen. Ein inhaltlich realistisches Jugenddrama mit Buttons an der Lederjacke, James-Dean-Poster und vereinzelt Einflüssen aus Action und Thriller über ein System, das seine Kinder frisst.
Und älter
Nach aggressiven Sprüchen, Bier, Gerülpse und obszönen Songs und Gesten im Linienbus in Ausnüchterungshaft, ohne Arbeit und Perspektive unwillkommen in ihren unterschiedlich desolaten Familien, ziehen die beiden Freunde „Lasse und Geir“ im gleichnamigen Film von 1976 zwei Tage lang durch Oslo. Sie tätigen kleine Diebstühle und treffen Kjersti, eine Taxifahrerin mit etwas dada-esker Persönlichkeit. Sie scheint die zwei Chaoten zu verstehen, akzeptiert sie jedenfalls... . Das laute, anarchisch grelle Sozialdrama begründete die Zusammenarbeit des Regie-Duos Svend Wam & Petter Vennerød, das mit 14 provokanten Filmen zu Jugend- und Gegenkulturen in 20 Jahren das norwegische Kino aufmischte. Erfolgreich: Scharfe Sozialkritik, akzentuierte Nacktszenen und ein genialisch-trashiger Gestaltungsdrang zeichnet ihre Filme aus, die mit vorsätzlicher Respektlosigkeit halfen, die moralisch und intellektuell verknöcherte, stagnierende norwegische Gesellschaft aufzubrechen.
Der Dokumentarfilm „Den siste filmen / The Last Movie“ (NOR 2023, Regie Olaug Spissøy Kyvik, Karianne Førland Vennerød) schaut zurück auf die knatternde, turbulente Karriere Petter Vennerøds zwischen Cannes-Premieren, Filmpreisen und vernichtenden Verrissen vor und nach der Teamzeit mit Svend Wam, und auf sein Sterben an einer seltenen Form von Parkinson. Noch einen letzten Film realisieren. Subtil, un-voyeuristisch aus großer Nähe eingefangen, reflektiert der Filmemacher mit seiner Frau seinen Zustand, verliert nach und nach seine Sprech- und Denkfähigkeit, lernt der Zuschauer jemanden „kennen“, dessen Verschwinden er fühlbar bedauert. Einer dieser Leute, von denen es viel mehr bräuchte auf Erden. Great guy, Klasse Ehefrau. Exzellenter Film über den Wert und das Ende des Lebens.
Fortsetzung folgt...