Schon bei der Vorstellung des Abendprogramms vom Sonntagabend (17.03.24) wunderte sich Andrè Heller, der Leiter des diesjährigen Reflektorprogramms über die volle Elbphilharmonie (ausverkauft!): Er frage sich, ob das Publikum wüßte, auf was es sich einlasse heute Abend?
Schließlich sollten gut 30 wilde Kerle aus Finnland gleich auf der Bühne stehen, nämlich mit Mieskuoro Huutajat der berühmte Schreichor aus der finnischen Industriestadt Oulu, hoch oben gelegen im Norden des Landes. Und der Chor aus stimmgewaltigen Herren in zu kleinen schwarzen Anzügen mit lässiger Gummikrawatte legten auch gleich ordentlich los. Breitbeinig und mit vorgewölbter Brust brüllten sie sich durch ihr Repertoire. Irgendwie finnischer Rap aus rhythmischen Rufen, Brüllen und Schreien. Angeleitet von ihrem spillerigen, stoppelhaarigen, visionären Chorleiter, Petri Sirviö, der den Takt natürlich mit einem Drumstick vorgibt.
Da kommt der Alt-Punk mit seinen anarchischen Ideen durch, während er mit trockenem Humor die verschiedenen Stücke ankündigt. Meist a cappella in Gruppen, allein oder als Gesamtchor oder am Ende auch verstärkt noch durch vier Megaphone geht es durch ein Programm aus Nationalhymnen (Belgien, Ungarn), Kinderliedern, die die Kleinen eigentlich zum Schlafen bringen sollten, was bei der Lautstärke aber kaum klappen dürfte, sowie deutschem Liedgut. Zunächst die „Ode an die Freude“, dann der „Stürmische Morgen“ aus der Winterreise von Franz Schubert und schließlich noch „Die schöne blaue Donau“.
Eigentlich wundert einen das alles nicht, denn in der finnischen Stadt Oulu wird auch jährlich die Luftgitarren-Weltmeisterschaft ausgetragen. Außerdem hat Finnland die seltsamsten Traditionen entwickelt, wie Tangotanzen über mehrere Wochen in einer Stadt, und zwar drinnen wie draußen auf den Straßen; oder gerade auch im Winter, wenn es eigentlich hauptsächlich dunkel ist, die Entspannungstechnik Kalsarikännit auszuleben, neben dem üblichen Saunagang. Das bedeutet nämlich ungefähr: Sich alleine zu Hause in Unterwäsche zu betrinken. Und natürlich kennen wir hier in Lübeck vor allem die schräge finnische Filmkunst von den Brüdern Kaurismäki und Konsorten. Also warum nicht mal Brüllen was die Lunge hergibt? Bereits seit über 35 Jahren grölen sich die Herren durch die Konzertsäle dieser Welt und nehmen Alben auf. Und auch wenn das lustig und skurril daherkommt, die mehrstimmigen Einsätze sind absolut präzise, teilweise in enorm schnellen Rhythmus exakt getimed.
Im Zugaben-Teil wird es dann sogar noch sportlich: Bei einem Tanzlied mit Sprungeinlage wippen die Herren elegant auf den Fußspitzen und atmen stossartig ein und aus. Es soll emotional werden, denn die Finnen lieben es, Ski zu laufen, aber wenn kein Schnee liegt, sind sie halt traurig. Also auf sie mit Gebrüll, und das gebannte (oder erschrockene?) Publikum ist schlussendlich sogar überwiegend begeistert.
Also ab in die Pause und zur Beruhigung einen Sekt geschlürft, bevor die mystischen Stimmen aus Bulgarien den Abend der Kontraste vollenden. Laut Heller soll schon der Papst begeistert gewesen sein, als er den Chor „Bulgarian Voice Angelite“ gehört hätte. „Wenn es gute Engel gäbe, würden die so singen wie die bulgarischen Damen in ihren wunderbar farbenprächtigen Gewändern“, so der Papst. „Wären dann die vorher gehörten durchgeknallten Finnen die bösen Engel?“, fragte sich André Heller bei der Anmoderation des wunderbaren Chores aus dem Südosten des Kontinents.
Scheinbar schwebend betreten die Damen in ihren traditionellen Trachten die Bühne. Unter der künstlerischen Leitung der Dirigentin Katy Barulova singen die Frauen mit ihren engelsgleichen Stimmen ein speziell für diesen Abend zusammengestelltes Programm: Jede der sieben Regionen Bulgariens, die eigene gewachsene Liedtraditionen besitzen, kommt zu seinem Recht. Es gibt orthodoxe Kirchenlieder und zeitgenössische Arrangements von alten Volksliedern. Mitunter in scharfer Mehrstimmigkeit fasziniert ein dichtes Geflecht aus Tönen zwischen Orient und Europa.
Aus dem Pirin-Gebirge im Südwesten nahe Griechenland etwa präsentierten sie eine mehrstimmige Gesangsart, die so nur dort praktiziert wird. Dabei singen zwei Frauen in vitaler Dissonanz zueinander gegen einen kleinen Chor hochoktavierte schrille Töne. Lustige Kiekser und hohe Schreie konkurrieren mit dem lustigen Gesangsstreit, der dabei manchmal von Triangel, Tamburin und orientalischem Zupfinstrument komplettiert wird. Am Ende wurden auch schon einmal rhythmisch die Holzlöffel aneinander geschlagen oder mit den Füssen gestampft.
Insgesamt ein fantastischer Abend der unterschiedlichsten Gesänge, mal laut, dann leise, mal engelsgleich, dann wieder brachial verstörend. Aber immer absolut beeindruckend. Eine Musik, die in ihrer Komplexität und Power jeden Liebhaber des besonderen Liedgutes überzeugen konnte. Darüber hinaus passte der Abend auch wunderbar in das Gesamt-Konzept von Andrè Heller: „Der Fremde ist nur in der Fremde fremd“.
Neben diesen Gesängen passten auch die großformatigen Gemälde von Xenia Hausner, die als Rauminstallation an die Wände in der Vorhalle projiziert wurden. Farbenprächtige Ölmalereien aus dem Werkzyklus „Exiles“, die durch die Flüchtlingsbewegungen des Jahres 2015 inspiriert wurden. Als Wegbereiterin internationaler Genderkunst zeigt die Künstlerin zudem zahlreiche Gemälde als ein Gegenmodel zu einer überkommenen stereotypischen Welt von Geschlechterrollen.