Andrew Manze und die NDR Radiophilharmonie in der MuK, Foto: Hildegard Przybyla

Schleswig-Holstein Musik Festival
Ein Rückblick auf das SHMF 2022 und auf Brahms

Alles hat sein Ende, auch das Schleswig-Holstein Musik Festival, weitläufig bekannt unter seinem Kürzel SHMF. Zum 37. Male strebte es, für zwei Monate das Bundesland zwischen Nord- und Ostsee in eine Musiklandschaft zu verwandeln und Marsch, Geest und dem östlichen Hügelland internationales Flair zu geben.

Auf einer Werft tat das zum Beispiel das amerikanische Trio „Time For Three“ mit „Klassik, Folk & Hip-Hop on Strings“, während „Sabine Meyer & Friends“, auch im Trio, eine Reithalle mit Klarinettenkunst füllte und „Die Masterclasses“ (schon sprachlich ungemein weltläufig!) hinter Lübecks historischen Mauern sich von musikalischer Elite aufputzen ließen. Einst gegründet, der klassischen Musik zu dienen, hat das SHMF längst alle Kunstformen aufgesogen, die sich irgendwie mit Klängen arrangieren, von Minori bis Ute Lemper, von „Star-Wars“ bis Martin Grubinger, von „Cuban Voices“ bis zu den „The King’s Singers“. Das Besondere gibt sich bemüht oder parodistisch, ernst oder unterhaltsam, mal konzertant oder vermittelt durch Gehilfen aus dem Schaugeschäft wie „Tukur & Redl“, Milberg oder Brandauer.

„Jazz Baltica“ mischt mit, „Porgy & Bess“ gibt es konzertant, auch Tom Jones oder Hip-Hop der „Fünf Sterne deluxe“ sind dabei. Wenn es das Portemonnaie zulässt, ist in dem bunten Vielerlei für jeden etwas dabei, nahezu täglich. Dafür reicht allerdings Schleswig-Holsteins Fläche längst nicht mehr. So wurde Hamburg, der Nachbar an der Südgrenze, einbezogen, lange bevor etliche Auftritte (oder sagt man da besser Events?) in der „Elphi“ extravagante Pflicht auch für treue Mitläufer des SHMF wurden. In diesem Jahr ergänzen gar elf weitere Spielstätten in der Elbmetropole das Angebot wie auch Grenzübertritte nach Dänemark oder Niedersachsen.

Das Konzert 199 und das mit der Nummer 201, am 27. und 28. August, gelten in diesem Jahr als das offizielle „Festival Finale“, bevor dann an den August-Resttagen die Konzerte 202 bis 204 in Hamburgs Laeiszhalle folgen - quasi drei Zugaben. Das ermöglicht dem Berichterstatter endlich ein Energiesparen. Damit sei nicht Strom, Gas und Benzin gedacht, sondern der Energie, die aufzubringen ist, sich in der Angebotsfülle einen Durchblick zu verschaffen. Der sei noch einmal mit den zwei Finalkonzerten versucht, die eine weitere, einige Jahre das Festival prägende Tradition beenden.

Zunächst charakterisierten Länderschwerpunkte die Programme, bis sie seit 2014 durch Retrospektiven auf bedeutsame Komponisten abgelöst wurden. Mendelssohn und Tschaikowsky, dann Haydn, Ravel und Schumann standen im Zentrum, schließlich Bach, Nielsen, Schubert und Brahms, der hamburgische Wiener. Er wurde in diesem Jahr zum Schlusslicht. Viel war zu hören aus seinem umfangreichen Schaffen.

Vom Lied bis zum Gesang in unterschiedlichster Manier, von der Instrumentalsonate über Kammermusik in kleinen wie großen Ensembles reichte das, und das vielfältig im Original, bearbeitet oder als „Vorlage“ im Jazz oder in anderer Form. Selbstverständlich wurden alle Instrumentalkonzerte präsentiert, das „Deutsche Requiem“ ebenso wie „Schicksalslied“ und „Nänie“. Wahrlich eine musikhistorische, zugleich äußerst lebendige Großtat, an der sich auch wieder das Brahms-Institut mit einer Ausstellung beteiligte. Sie präsentiert, wie „Der junge Brahms“ sich einst sportlich und belesen „Zwischen Natur und Poesie“ bewegte.

Und das Institut ist auch durch seinen Leiter Professor Wolfgang Sandberger in anderer Weise beteiligt. Acht Podcasts hat er mit seinen Gästen aus wissenschaftlicher oder künstlerischer Sicht aufgenommen, nachzuhören auf der Internetseite des SHMF. Er unterhält sich zum Beispiel mit Sabine Meyer, dem „Fräulein Klarinette“, über eben ihr Instrument und die Kompositionen, die Brahms für dies eingefallen sind, oder mit Thomas Hengelbrock darüber, wie Brahms „Ein Trost für die Lebenden“ geworden ist. Ein weiterer Gast ist sein Wiener Kollege Otto Biba, mit dem er zum Schluss unter „Brahms, der Selbstkritische“ auf die Sinfonien zu sprechen kommt. Trefflich, da sie für das „Festival Finale“ aufgespart waren! Mit dieser Gattung hatte er ja bekanntlich sehr lange und auch sehr intensiv gerungen, vor allem das Vorbild Beethoven wie einen ihn verfolgenden Riesen gefürchtet.

Brahms hatte sich befreit. Dennoch ist es nur bei vier Werken dieser Gattung geblieben. Sie bot das Festivalprogramm nun als Schlusspunkt an zwei Tagen geballt hintereinander, ein sehr seltenes Hörereignis im Konzertsaal. Dafür wurde die NDR Radiophilharmonie unter seinem Chef Andrew Manze engagiert. Einfach aber alle vier Werke in chronologischer Folge zu bieten, erschien dann doch zu simpel. Man entschloss sich, am ersten Abend die beiden Moll-Sinfonien aufzuführen, die im Schaffensprozess die in Dur rahmen, die am Abend darauf folgten.

Andrew Manze und die NDR Radiophilharmonie in der MuK, Foto: Hildegard PrzybylaAndrew Manze und die NDR Radiophilharmonie in der MuK, Foto: Hildegard Przybyla

43 Jahre alt war Brahms, bevor er sich mit seiner ersten Sinfonie der Öffentlichkeit stellte. Es war ein Werk geworden, dessen kompositorische Feinheit so recht erst ein Partiturstudium eröffnet. Voller dynamischer und motivischer Feinheiten und von raffinierter Gestaltung ist sie. Aber an allem schien der Dirigent an diesem Abend wenig interessiert zu sein. Obwohl er ein eher langsames Grundtempo in allen Sätzen wählte, waren ihm vor allem dynamische Spitzen von Interesse, um die Wucht der brahmsschen musikalischen Rhetorik aufzuzeigen. Das ermüdete, hinterließ einen angespannten Eindruck, in dem wenig von dem sensiblen Charakter des Komponisten zu finden war, schien auch wegen der Hochspannung die Orchestermusiker zu erlahmen. Anders sind etliche Ungenauigkeiten bei Einsätzen nicht zu erklären. Erst im vierten Satz besserte sich der Eindruck, als die Klangbalance zwischen den ständig gedämpften Streichern und den immer dominanten Bläsern sich besserte und sich so die Thematik dieses Finalsatzes mehr vermittelte.

Nach der Pause fand Manke mehr Ruhe, forcierte deutlich weniger, fiel nur in Forte-Partien in sein treibendes Dirigieren zurück. So bekamen seine Instrumentalisten in dem Opus 98 mehr Zeit, ihre Partien zu formen und Brahms‘ Sensibilität zu entwickeln. Ein schönes Hörerlebnis brachte vor allem der zweite Satz, auch der dritte, in dem die Musiker mit weitem Atem der Melodik nachhorchen konnten. Mit allem aber versöhnte dann der letzte Satz, dessen einzigartige Struktur sich in dieser Wiedergabe überzeugend zeigen konnte und wofür das Publikum sich mit langem Beifall bedankte.

Um einen Abend mit den beiden mittleren Werken sinnvoll zu gestalten, war nur die der Chronologie entgegenlaufende Reihenfolge der Beiträge möglich. Brahms‘ eigenwillig und resignativ versiegender Schluss der F-Dur Sinfonie, der Dritten, hätte den Abend nicht triumphal genug ausklingen lassen, hätte das Publikum nicht ansteckend zu Beifall animiert. Darauf achtet man schon beim Management! Dazu eignete sich die zweite besser, wodurch das gesamte Konzert auch eine wirkungsvollere Gesamtdynamik bekam, als das am Abend zuvor.

Manze schien wie ausgewechselt, gab ruhig und seinen Musikern vertrauend seine Einsätze, gestalte auch im Piano. Endlich konnte das Orchester seine Fähigkeiten beweisen, fanden vor allem die Streicher zu überzeugender Wärme im Klang und die Bläser zu nuancierender Sicherheit. Mit dieser Leistung kann sich das in Hannover beheimatete NDR-Orchester erhobenen Hauptes neben das Hamburger stellen, das sich nach dem Hamburger Luxus-Bau NDR Elbphilharmonie Orchester nennt.

Die Sinfoniekonzerte der neuen Saison lassen weitere Vergleiche zu, denn beide Orchester werden sie bestreiten.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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