Jarvis Cocker & Chilly Gonzales „Room 29“
Blick hinter die Glamour-Fassade

Welche Geschichten wohl ein Hotelzimmer über seine Gäste zu erzählen hätte? Eine Suite an Hollywoods Sunset Boulevard? Und wie würde das Ganze aus Sicht eines Klaviers klingen, das die Eskapaden unzähliger Stars und Sternchen miterlebt hat? Diese Fragen stellte sich der britische Sänger und Pulp-Frontman Jarvis Cocker, als er 2012 mit seiner Band im legendären Hotel Chateau Marmont übernachtete.

C. Gonzales und J. Cocker, (c) Alexandre IsardC. Gonzales und J. Cocker, (c) Alexandre IsardGemeinsam mit dem kanadischen Pianisten und Entertainer Chilly Gonzales begab sich Cocker auf eine dreijährige Nostalgiereise durch die dekadente Welt der Reichen und Schönen. Entstanden ist ein intimer Liederzyklus, wie wir ihn aus der Romantik des 19. Jahrhunderts kennen. Um emotionale Dramen geht es, um Einsamkeit, Drogen und die Schattenseiten des Showgeschäfts. Schauspielerin Jean Harlow, die Marilyn Monroe der 1930er Jahre, und Filmproduzent Howard Hughes begegnen uns ebenso wie Mark Twains Tochter Clara.

Cockers Texte, geschrieben aus Sicht des Stutzflügels in Zimmer 29, beruhen teils auf wahren, teils auf imaginären Ereignissen. Sie sind lebendig, gefühlsgeladen und nicht ohne Ironie. Cocker singt, spricht oder flüstert sie, mal geheimnisvoll, mal verzweifelt mit zittriger Stimme, dann wieder charmant und voller Wärme. „Welch angenehmer Ort für einen Nervenzusammenbruch“, heißt es im Titelsong „Room 29“. Oder im Hit „Tearjerker“: „Du bist so ein Idiot ... Du brauchst keine Freundin, du brauchst einen Sozialarbeiter.“

Die Klaviermusik komponierte Gonzales. Einige Stücke werden von den Streichern des Hamburger Kaiser Quartetts begleitet und erinnern an die Kammermusik auf Gonzales’ Album „Chambers“. Vereinzelt nehmen sie die Dramatik sentimentaler Filmmusik an. Insgesamt gleicht das Werk aber eher der atmosphärischen Lounge-Musik, die man in einem Hotel erwartet – mal mit flotten Pop-Einflüssen, oft mit melancholischer Note.
Bildlich stehen die Stimmungs-Wechsel für die Ambivalenz der Hollywood-Welt: Auf der einen Seite die Makellosigkeit und Perfektion, nach der sich so viele Menschen sehnen. Auf der anderen Seite die tragische Wirklichkeit hinter der glitzernden Fassade. „Ich habe mein Leben an eine Sinnestäuschung verschwendet“, lautet die ernüchternde Erkenntnis in „Trick of the light“, bevor zum Finale des Liederkreises schon wieder die Champagnerkorken knallen.

„Room 29“ ist ein kreatives und unterhaltsames Album, an dem nicht nur die Künstler ihren Spaß haben. Live erleben kann man Pianist Chilly Gonzales beim Schleswig-Holstein Musik Festival zusammen mit dem Kaiser Quartett. Das augenzwinkernd als „Kammer-Rap“ titulierte Programm ist am 8. August in der Hamburger Elbphilharmonie (K 145) und am 9. August in der Lübecker Musik- und Kongresshalle (K 147) zu hören.

Jarvis Cocker & Chilly Gonzales: Room 29, Deutsche Grammophon (Universal Music), 17. März 2017, Amazon.

Jennifer Balthasar
Jennifer Balthasar
Publizistin M.A., Magisterstudium der Publizistik, Psychologie und Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Freiberuflich tätig in den Bereichen Journalismus, Öffentlichkeitsarbeit und Unternehmenskommunikation. Ihre Schwerpunkte bei „unser Lübeck“ sind moderne Klaviermusik, Alte Musik, Weltmusik und Crossovers sowie gesellschaftsbezogene Literatur, klassischer und moderner Tanz.

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