Judith Holofernes, Foto: (c) Marco Sensche

Interview mit Singer-Songwriterin und „Heldin“ Judith Holofernes
„Gestatten, ich bin das Chaos“

12 Jahre lang war sie die Frontfrau der Pop-Rock-Band „Wir sind Helden“. Mit ihrem zweiten Solo-Programm „Ich bin das Chaos“ kommt Judith Holofernes im Juli live zum SHMF nach Lübeck und Flensburg. Was sie am Chaos so fasziniert und in welchem Song sie das vorläufige Ende ihrer Band verarbeitet, erzählt uns die Künstlerin persönlich.

Geboren 1976 in Berlin-Kreuzberg, wo sie in einer WG aufwuchs, zog Judith Holofernes im Alter von sechs Jahren mit ihrer Mutter ins bürgerliche Freiburg. Schon früh interessierte sie sich für Literatur und Musik und lernte vor allem eins: ihren eigenen Weg zu gehen. Für ihre poetisch-verspielten und sozialkritischen Texte ist die Musikerin bekannt, und davon gibt es auf ihrem aktuellen Album reichlich.

Jennifer Balthasar: Judith, in deinem aktuellen Programm spielt das Chaos die zentrale Rolle. Was ist das eigentlich, das Chaos, und was hat das mit dir zu tun?

Judith Holofernes: Das Chaos ist für mich ein guter Freund, eine kreative Kraft. Man darf keine Angst davor haben, sondern muss sich darauf einlassen, sonst kann man nicht kreativ sein. Allerdings gibt es auch das unromantische Chaos, mit dem man im Alltag zu kämpfen hat. Das war bei mir als Kind so und auch noch als Erwachsene. Aber mittlerweile habe ich das ganz gut im Griff. Und natürlich gibt es auf der Bühne Momente, in denen wir frei improvisieren und nicht wissen, was passiert. Das ist dann wieder schön. Eigentlich ist das Chaos die Wahrheit des Lebens. Wenn man sich damit befreundet, hat es etwas Versöhnliches.

Jennifer Balthasar: Und offensichtlich hat es auch etwas Verführerisches. Dein Titellied „Ich bin das Chaos“ ist eine Art Flirt mit dem Teufel, oder?

Judith Holofernes: Ja, jeder findet doch das Chaos attraktiv und ist irgendwie verknallt in die Bösewichte und Anarchisten. Als ich den Song geschrieben habe, musste ich immer an Mephisto aus Goethes „Faust“ und vor allem an den Joker aus „Batman“ denken. Er war mein Bild zum Song. Ich spreche viel in Bildern und Filmreferenzen, und so sagte ich zu Teitur Lassen, mit dem ich das Album geschrieben und aufgenommen habe: „For ‚Chaos’ I need to be the Joker in Batman.“ Er hat mich sofort verstanden.

Jennifer Balthasar: Was den Umgang mit dem seelischen Chaos betrifft: Ich habe gehört, Du experimentierst mit dem Nichtstun. Du setzt dich aufs Sofa und schaust mehrere Stunden aus dem Fenster oder einfach auf die weiße Wand. Im Gegensatz zum Meditieren ist dabei das Nachdenken ausdrücklich erlaubt. Sind das Momente, in denen das innere Chaos zur Ruhe kommt, oder bricht es dann erst richtig aus?

Judith Holofernes: Eine schöne Frage. Also, das Nichtstun gibt dem Chaos Raum. Es gibt ihm die Möglichkeit, sich auszusprechen. Es wird erst lauter, auch mal unangenehm, aber wenn man sich selbst zuhört wie ein guter Freund, ohne einzugreifen, dann plappert sich das Chaos aus, wird friedlicher und kommt zur Ruhe. Die fernöstlichen Weisheitslehren sind in dieser Hinsicht viel weiter als wir hier.

Jennifer Balthasar: Schauen wir mal etwas genauer auf dein Programm und die einzelnen Songs. Was verbindet deine Lieder inhaltlich, abgesehen vom übergeordneten Chaos?

Judith Holofernes: Es geht in erster Linie um Freude, die ist ganz wichtig. Und dann geht es um Hindernisse, die uns vom Fröhlichsein abhalten, um Sorgen, Verstricktsein, Leiden. Ich erzähle gerne Geschichten. Es geht dabei gar nicht um mich, zumindest nicht bewusst. Oft merke ich erst zwei Jahre später, dass in den Charakteren doch viel von mir selbst steckt. Zum Beispiel in der leidenschaftlich leidenden Lisa oder in Charlotte, die nicht loslassen kann, obwohl sie kurz vor dem Burn-out steht.

Jennifer Balthasar: Dein Song „Der letzte Optimist“ ist sehr traurig und ohne Hoffnung. Eine Person, die immer an das Gute geglaubt hat, liegt jetzt am Boden, und offenbar kann ihr niemand helfen. Es klingt so, als ob eine konkrete Geschichte dahintersteckt.

Judith Holofernes: Der Auslöser war, dass ich im Winter nachts allein durch Kreuzberg gelaufen bin. Es gab viele Pfützen, in denen sich der Himmel gespiegelt hat, aber keine Sterne. Das hat ein starkes körperliches Gefühl in mir ausgelöst, eine Erinnerung an Teenagertage. Wenn man vom Liebeskummer richtig zerstört ist, keinen Hoffnungsschimmer mehr sieht, sich mit Zweifeln plagt, ob man selbst schuld ist. Dieses körperliche Elend voller Schmerz, wenn man sich nur noch übergeben möchte, darüber müsste man mal einen Song schreiben, dachte ich: „... und hinter diesen Sternen nichts als Satellitenschrott, Unendlichkeit und Elend. Und die Sterne blinken einzeln und gehen aus, weil der letzte Optimist sie nicht mehr braucht.“

Jennifer Balthasar: Bist du Optimistin?

Judith Holofernes: Auf jeden Fall, eine weitestgehend unzerstörbare Optimistin. Ich schreibe zwar viele traurige Lieder, die im Herzen voller Dunkelheit sind, liefere aber immer gerne den Silberstreif am Horizont mit. Das war auch bei den „Helden“ schon so.

Jennifer Balthasar: Im Gegensatz zum letzten Optimisten ist der Song „Analogpunk“ ziemlich rasant. Da treffen zwei Welten aufeinander: Zwei Menschen kommunizieren immer aneinander vorbei, weil die eine Person digital unterwegs ist und die andere noch analog. Kennst du das Problem?

Judith Holofernes: Ja, von mir selbst. Ich bin beides und kommuniziere auch mal an mir vorbei. Einerseits liebe ich die digitale Welt, weil ich mir eigene Kanäle schaffen kann, um mit meinen Leuten zu kommunizieren. Andererseits gehe ich gerne im Wald spazieren. Das passt nicht so gut zusammen.

Jennifer Balthasar: Auf deinem Album findet sich noch ein sehr intensives Stück, das nicht nur berührt, sondern auch nachdenklich macht: „Der Krieg ist vorbei“. Wie ist es zu diesem Lied gekommen?

Judith Holofernes: Das ist fast mein Lieblingslied. Es ist persönlicher als es klingt, eine selbsttherapeutische Geschichte. Ich verarbeite darin das Ende von „Wir sind Helden“ und die Schwierigkeiten, die ich damit hatte, die Band loszulassen: „... ich weiß nicht, wie man aufhört, nur wie man anfängt.“ Aber es ist auch die Geschichte von jemandem, der noch im Krieg ist, der Letzte, der seine Waffen noch nicht abgegeben hat, sich im Haus verschanzt und nicht aufhören kann.

Jennifer Balthasar: Du schreibst über eine große Bandbreite von Themen. Das reicht von kleinen Beobachtungen und Anekdoten bis zur übergreifenden Gesellschaftskritik. Wie wählst du die Themen aus, denen du einen Song oder auch ein Gedicht widmest?

Judith Holofernes: Die wählen mich aus! Da ist gar nicht so viel Wollen dabei! Ich sehe mir eher dabei zu. Ich merke, wie meine Gedanken immer wieder um ein Thema kreisen, dass ich immer wieder darüber spreche oder einfach bestimmte Motive in meiner Alltagssprache auftauchen. Ich beobachte auch gerne, was wir Menschen so tun. Am Ende verdichtet sich das selbst zu einem Song oder Gedicht.

Jennifer Balthasar: Und die ersten Songideen kommen dann handschriftlich in ein kleines Büchlein oder doch als Sprachmemo aufs Handy?

Judith Holofernes: Da bin ich auch relativ chaotisch. Ich arbeite viel mit verschiedenen Farben und Markierungen, im Notizbuch und am Computer, schiebe Teile hin und her, merke, dass die Bridge eigentlich der C-Teil ist, und ordne dann alles neu. Einige Songs entstehen komplett ohne Notizen bei einem Waldspaziergang, zum Beispiel „So weit gekommen“ vom aktuellen Album. Wenn ich zurück bin, muss ich mich dann sofort hinsetzen. Manchmal schreibe ich auch zweisprachig auf Englisch und Deutsch.

Jennifer Balthasar: Ist eigentlich immer zuerst der Text da, und dann kommt die Musik hinzu, oder funktioniert das auch mal umgekehrt?

Judith Holofernes: Wenn ich allein an einem Song schreibe, entstehen Text und Musik immer parallel. Oft bringt der Text eine Melodie mit. Oder ich sitze an der Gitarre, und dabei ergibt sich der Text. Bei den „Helden“-Songs war das anders: Oft gab es eine fertige Melodie, und ich habe dazu eine Gesangsmelodie und einen Text geschrieben.

Jennifer Balthasar: Du warst dieses Jahr bei der TV-Sendung „Sing meinen Song“ dabei und hast zum Teil Songs der anderen Teilnehmer textlich vollendet. Was nimmst du aus dieser gemeinsamen Zeit in Südafrika mit?

Judith Holofernes: Ganz viel. Das wird sich in den kommenden Monaten erst noch entfalten. Auf jeden Fall ein größeres Selbstvertrauen. Mein Spieltrieb hat mich schon immer getragen, aber „Sing meinen Song“ ist eine noch größere Herausforderung, als man beim bloßen Zusehen glaubt. Es gehört viel Mut dazu, seine Komfortzone zu verlassen. Selbst große Sänger werden unsicher, wenn sie sich mit einem ganz anderen Stil auseinandersetzen müssen. Aber es macht Spaß und bringt uns als Musiker weiter.

Jennifer Balthasar: Wirst du einige der Songs auch auf deinen Konzerten spielen?

Judith Holofernes: Ja, es werden immer zwei bis drei dieser Songs dabei sein und auch zwei bis drei „Helden“-Songs. Vielleicht nicht die Hits, die man als Erstes erwarten würde und auch nicht immer die gleichen Songs. Es wird jeden Abend ein neues Überraschungspaket geben.

Jennifer Balthasar: Hast du schon Pläne für die Zeit nach dem „Chaos“?

Judith Holofernes: Ich habe ein Langzeitprojekt, an dem ich seit Jahren arbeite: meine englischen Lieblingssongs, die ich ins Deutsche übersetzt habe. Leider ist das mit den Musikrechten ziemlich schwierig, und wenn das Stück im Radio gespielt wird, verdient man als Interpret kaum etwas daran. Trotzdem werde ich das Album machen. Die Sendung „Sing meinen Song“ ist hier ein neuer Ansporn für mich. Gerade für das Lied „Feuer frei“, meine Übersetzung von Rea Garveys „Armour“, habe ich tolle Rückmeldungen bekommen. Außerdem arbeite ich an neuen eigenen Songs. Und ich möchte mehr schreiben, nicht nur Gedichte, gerne auch etwas Längeres. Es wird sich zeigen, welches Projekt die dicksten Ellenbogen ausfährt und die anderen überholt.

Judith Holofernes mit Ehemann und Produzent Pola Roy, Foto: (c) Marco SenscheJudith Holofernes mit Ehemann und Produzent Pola Roy, Foto: (c) Marco Sensche

Jennifer Balthasar: Welche Frage möchtest du dir selbst noch stellen?

Judith Holofernes: Hm ... Wie unsere Konzerte wohl werden? Auf jeden Fall werden sie sehr bunt und frei sein. Im vergangenen Herbst mussten wir leider einige Auftritte wegen Krankheit absagen, gerade als wir richtig in Fahrt waren. Das holen wir jetzt nach, auch mit dem Rückenwind von „Sing meinen Song“. Ich freue mich riesig, wieder live loszulegen. Wir werden viel Spaß haben, aber auch stille Momente erleben. Ich konnte mich nie entscheiden zwischen den lauten, tanzbaren Stücken und den tiefen Gefühlen im Kleinen. Jetzt schlagen wir einen großen Bogen und machen beides. So, wie ich das immer wollte. Das wird die perfekte Party!

Vielen Dank für dieses Gespräch und viel Spaß und Erfolg auf deiner Tour!

Judith Holofernes ist am Mittwoch, 18.07. live in der Kulturwerft Gollan (SHMF K 56) zu hören und bereits am Vortag in Flensburg (Robbe & Berking, K 53). Weitere Gelegenheiten, die Künstlerin im Norden live zu erleben, gibt es am 03.12. in Rostock (Mau Club) und am 04.12. in Hamburg (Mojo).

Album zum Programm:

Judith Holofernes: Ich bin das Chaos, Därängdängdäng Records (Warner Music), 17. März 2017, Amazon

Weitere Informationen zur Künstlerin: www.judith-holofernes.de

Jennifer Balthasar
Jennifer Balthasar
Publizistin M.A., Magisterstudium der Publizistik, Psychologie und Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Freiberuflich tätig in den Bereichen Journalismus, Öffentlichkeitsarbeit und Unternehmenskommunikation. Ihre Schwerpunkte bei „unser Lübeck“ sind moderne Klaviermusik, Alte Musik, Weltmusik und Crossovers sowie gesellschaftsbezogene Literatur, klassischer und moderner Tanz.

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