Er könne nicht wirklich eine Weihnachtsführung anbieten, erklärt Dr. Alexej Baskakov. Denn das werde der Ausstellung und den Schriftstellern Heinrich und Thomas Mann nicht gerecht: „Da ist zu viel Drama.“ Besinnlich wird es dann später noch.
Aber zunächst erhalten alle, die „Weihnachten bei den Buddenbrooks“ gebucht haben, einen Einblick ins familiäre und politische Umfeld der berühmten Schriftsteller. Herkunft, Identität, Abstammung und Tradition, das seien die Schlüsselbegriffe für beide Mann-Brüder gewesen, leitet Baskakov seinen Rundgang durch den biografischen Teil der Ausstellung ein. Thomas Johann Heinrich Mann, der Vater der Autoren, galt als typischer Hanseat, korrekt, fleißig, bodenständig, traditionsbewusst und etwas zurückhaltend, während die Mutter, eine Halb-Brasilianerin, das Klischee der Südländerin verkörperte: musisch und temperamentvoll.
Sehr anschaulich macht Baskakov, dass diese Herkunft für Konflikte sorgte, innere Zerrissenheit bei den Kindern bewirkte und somit immer auch Stoff für die künstlerische Auseinandersetzung lieferte. Die Manns waren keine unproblematische Familie, dafür spricht die hohe Selbstmordrate, unter anderem Thomas Manns beide Schwestern wählten den Freitod.
Besonderen Augenmerk legt der Museumsführer auf das Verhältnis der beiden Brüder Heinrich und Thomas. Anhand der ausgestellten Fotos verdeutlicht er, wie die Lebenswege nach anfänglichem Zusammenhalt auseinander drifteten: Während Heinrich sich zum unsteten, aber souverän agierenden Bohemien entwickelte, begann Thomas sich mehr und mehr wie ein Beamter zu benehmen. Er ordnete die Schreibstifte pedantisch nach Größe und ging sogar an den Strand mit Krawatte. Baskakov: „Thomas leidet, Heinrich lebt. Heinrich Mann erlangte innere Freiheit, sein Bruder Thomas nicht.“ Der Mann, dem bald das Image eines kalten, konservativen Aristokraten anhing, war in Wirklichkeit schüchtern, nervös, melancholisch und ängstlich. Das zur Schau gestellte Selbstbewusstsein war Fassade.
Beide Brüder enttäuschten den Vater bitter, indem sie seine Erwartungen nicht erfüllten, weder Politiker noch Geschäftsmann wurden, nicht einmal die Schule ordentlich abschlossen. Die Erfolge und Triumphe seiner beiden Söhne erlebte Thomas Johann Heinrich Mann, der früh starb, nicht mehr mit. Seine Witwe nutzte übrigens ihren Teil des ansehnlichen Erbes aus dem Verkauf der Speditions- und Handelsfirma, um in München ein neues Leben als Kunstmäzenin zu beginnen.
Sehr deutlich macht Baskakov die Parallelen zwischen Thomas Manns eigener Jugend und seinen Romanfiguren, den Buddenbrooks. Hier wie dort gibt es das Spannungsfeld zwischen Geschäftswelt und Kunst, zwischen Veranlagung und Erwartung, zwischen Sollen und Sein. Als Thomas Mann 1929 den Literaturnobelpreis erhielt, befeuerte auch das seine Selbstzweifel, denn der Roman, für den er geehrt wurde, war schon 28 Jahre vorher erschienen. Hieß das etwa, alles, was er in der Zwischenzeit geschaffen hatte, wäre bedeutungslos oder minderwertig?
Bei allen Unterschieden und allen Differenzen waren sich Heinrich und Thomas Mann in einem einig: Sie warnten beide, unabhängig von-, aber parallel zueinander, schon früh vor dem Erstarken des Nationalsozialismus. Dr. Alexej Baskakov berichtet so eindringlich wie fachkundig über beider Schicksale, ihre Familien und über die Turbulenzen der Epoche „die ja auch noch unsere ist“, dass man ihm stundenlang zuhören könnte. Doch – war da nicht noch etwas?
Im zweiten Stock des Buddenbrookhauses ist der Speisesaal weihnachtlich geschmückt, das „Landschaftszimmer“ schön beleuchtet. Die beiden Räume, im Stile des Romans eingerichtet, sind Kulisse, „nicht akademisch, sondern theatralisch“, wie der Museumsführer es ausdrückt. Auf dem Esstisch ist sogar ein Puppentheater aus Pappe aufgestellt, über das man später mehr erfährt, unter dem mit weißen Lilien geschmückten Christbaum türmen sich Geschenkpakete.
Die Vorstellung wird im Altstadthotel fortgesetzt, in der Fischergrube, wo Thomas Buddenbrooks Geliebte Anna arbeitete. Kunstvermittlerin Annette Klockmann versteht es, die Lesung des Buddenbrook’schen Weihnachtskapitels mit Anmerkungen und Erklärungen zu bereichern, die den Text lebendig werden lassen. Sogar das Braune-Kuchen-Rezept der Familie Mann hat sie ausgegraben, im Altstadthotel hat man es zur Freude der Gäste nachgebacken. Sie können beim Kaffee daran und an anderen süßen Köstlichkeiten knabbern, während Klockmann von den Traditionen (Achtung: Schlüsselbegriff, wie man aus der Führung weiß!) beim Konsul aus der Mengstraße liest. Dort pflegte man Weingelee und Mandelcreme, parfümiert mit Rosenwasser, zu genießen, während von draußen die Klänge der italienischen Drehorgelmänner hereindrangen. Die Chorknaben aus St. Marien sangen „Tochter Zion“, die Hausarmen wurden beschenkt.
Der musisch veranlagte Hanno (Achtung: Mann-Biografie!) wartet ungeduldig darauf, den Gabentisch zu stürmen. Dann endlich, wird der Zugang zum Speisesaal freigegeben: Die Tür öffnete sich, und „es ging direkt in den Himmel“, was nicht nur an der azurfarbenen Tapete lag. Hanno bekam tatsächlich das ersehnte Puppentheater, dazu noch ein Harmonium von der Großmutter, alles präsentiert unter dem liliengeschmückten Weihnachtsbaum. Später zog man sich ins Landschaftszimmer zurück, das die Gäste dank der Führung vor Augen haben.
Friede, Freude, Braune Kuchen: man sollte diese Eindrücke hegen und pflegen, genau wie die der Mann-Ausstellung samt Epochenkommentaren. Denn bis zur Wiedereröffnung des Buddenbrookhauses wird noch einiges Wasser die Trave hinunterfließen. Bis dahin halte man sich tunlichst an die Aufforderung des Fräulein Therese Weichbrodt, Freundin der Familie Buddenbrook: „Sei glöcklich, du gutes Kend!“