Helene Grass

Die lange Nacht der Lübeck Literatur im Buddenbrookhaus
Bunte Häppchen, vielgestaltig kredenzt

Was dem Publikum in der langen Literaturacht am 29. Juni geboten wurde, kann man mit einem Buffet vergleichen. Attraktive Häppchen und Happen, von den besten Kellnern an verschiedenen Stationen dargeboten. Zuweilen brauchte man Glück, um zum ausgewählten Stück zu gelangen. Vorspeise (Begrüßung) und Dessert (Poetry Slam) wurden gemeinsam im Theater eingenommen.

Die Veranstalter – Theater Lübeck, Buddenbrookhaus und Günter Grass-Haus – kündigten die Veranstaltung wie folgt an: „Die Lange Nacht der Lübeck Literatur präsentiert die funkelndsten Perlen der Lübeck-Prosa in einer einzigen Nacht: Stars, Autoren und Local Heroes hauchen den Lübeck-Klassikern von Thomas und Heinrich Mann oder Emanuel Geibel neues Leben ein, nehmen die Besucher*innen mit auf eine Reise durch das Universum von Günter Grass und erzählen hautnah, was Ida Boy-Ed, Franziska von Reventlow oder Uwe Johnson wirklich über Lübeck dachten und wie schön es sich in Trave-Krimis sterben lässt. Junge Autorinnen wie Maria Odoevskaya und Svealena Kutschke werfen einen frischen Blick auf einen Ort, der Literaten seit Generationen zu Liebes- und Hassausbrüchen herausfordert.“

Das ließ einem das Wasser im Munde zusammenlaufen, um beim Buffet-Bild zu bleiben. Und schnell wurde klar: Man hatte die Qual der Wahl. Sollte man von der Darbietungskunst berühmter Schauspieler/innen kosten, Exotisches probieren, Neues naschen oder sich lieber auf Bekanntes von hervorragender Qualität konzentrieren? Eine Kostprobe aus vier Stationen im Buddenbrookhaus: 

Meret Becker und Frauen, die weg wollen

Von Aufbruch und Rebellion handelten die Texte von vier Autorinnen, die in und um Lübeck spielten – und wer könnte das besser präsentieren als eine Unangepasste, Schillernde wie die Berliner Schauspielerin? Das dachten sich die Veranstalter, wie Dr. Birte Lipinski in ihrer Appetit machenden Anmoderation erklärte.

Meret BeckerMeret Becker

Becker tat, was man erwarten konnte: sie las. Die erste Protagonistin Therese, die in Ida Boy-Eds Roman „Ein königlicher Kaufmann“ in das Haus ihres frisch gebackenen, viel beschäftigten Ehemannes einzieht, kam in Beckers Interpretation gar zu mädchenhaft weg. Die Tonalität der nächsten Figur Christin, die fort will vom Landleben, vom Bauernhof, wo die Wettläufe der Mäuse an manchem Tag das Spannendste sind, lag Becker mehr.

Eine Entdeckung: Franziska zu Reventlows Briefroman „Der Geldkomplex“ von 1916! Der Text erzählt derart schnörkellos und mit berückender Selbstironie von der „Kunst, Schulden mit Charme zu ertragen“, dass er auch aus dem Mund dieser sehr heutigen Schauspielerin nicht gekünstelt klang.

„Ans Meer“ zieht es die Protagonistin aus Dagrun Hintzes Geschichte nach einer Vernissage, im Bewusstsein, am nächsten Tag arbeiten zu müssen. Im Gepäck: Gin, Erdbeeren und Joints. Und obwohl „das Abenteuerliche im Plan selten das Abenteuerliche in der Wirklichkeit“ wird, las Meret Becker letztlich vom perfekten Moment.

Grünig und Grass und Grimm

Peter Grünig, in Lübeck durch seine Darstellung des Professors Unrat bekannt, las aus Günter Grass’ letztem Werk „Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung“ von 2010, in dem er die Lebensgeschichte von Jacob und Wilhelm Grimm erzählt, die als Märchensammler bekannt wurden, aber auch das Mammutprojekt „Deutsches Wörterbuch“ begonnen haben. Der vorstehende Satz wäre im Grass’schen Universum ein eher kurzer, und deshalb war Grünigs modulierende Stimme ein wertvolles strukturierendes Element.

Peter GrünigPeter Grünig

Die Passagen aus dem 368-Seiten-Werk waren abwechslungsreich ausgesucht. Grünig trug mit angemessenem Pathos die Geschichte von der Erklärung der „Göttinger Sieben“ vor, in der die beiden Grimms zusammen mit fünf weiteren Gelehrten 1837 gegen den König von Hannover protestierten. Sie verloren ihre Ämter, und Jacob wurde des Landes verwiesen. Erst da begann ihre Arbeit an der Katalogisierung der deutschen Sprache.

Immer wieder kam der Text auf den Germanistentag zu sprechen, der 1847 in Lübeck stattfand und von Jacob Grimm geleitet wurde. Grass verwebt seine Erzählung der historischen Ereignisse stets mit dem Plan, die deutsche Sprache zu pflegen: „Schneisen schlagen, dem Wildwuchs Lichtungen abnötigen“, wie etwa bei der Behandlung der bestimmten Artikel.

Wie Grass Grimms wissenschaftliches Ansinnen auf eine unterhaltsame Ebene hievt, verdeutlichte Grünig zusätzlich durch seine Artikulation. Etwa wenn er die aus einem Artikel hervorgegangenen Adverbien dergestalt und derweil schon beinah sarkastisch überbetonte.

Helene Grass in Travemünde

Vom „bürgerlichsten Seebad“ an der Ostsee erzählte Helene Grass in vier Varianten. Ihr Vortrag war derart ausdrucksstark, dass man vergessen konnte, dass sie die Worte ablas. Zwei Passagen aus den Buddenbrooks waren dabei. In einer wird anschaulich der Badebetrieb beschrieben mit hölzernen Badekutschen und seichtem Einstieg ins Meer. Das „eigentliche Sanssouci der Lübecker“ sei nichts Großartiges, jedoch behaglich und Standesunterschiede verachtend. Eigentlich folgerichtig lernt Antonie, genannt Tony, dort Morten Schwarzkopf kennen, den Sohn des Lotsenkommandeurs – der zweite Buddenbrooks-Ausschnitt.

Helene GrassHelene Grass

Grass ließ Tony lebendig werden, etwa in ihrem Bericht, wie sie die bunten Sterne aus den Quallen gewinnen wollte. Oder in der rührenden Szene, wie sie sich in Morten verliebt: „Sie blickten gemeinsam in dieselbe Ferne.“ Nicht weniger bildlich stellte Helene Grass die Künstlerin Fröhlich und ihre Entourage aus Heinrich Manns „Professor Unrat“ vor. Wie die Verehrer der Fröhlich ihrem Kind die Sandförmchen hinterhertragen, wie die Familie Unrat „Vergnügen und Empörung stiftete“: großartig erzählt!

Der Überraschungshappen an dieser Station des Buffets war das Loblied der Langeweile, das Karin Reschke in ihren „Skizzen vom Ostseestrand“ auf Travemünde singt. Lakonisch stellt sie fest, „wir haben uns an die Maritims dieser Welt gewöhnt“, um dann mit dezenter Schadenfreude „die Schröders“ zu beschreiben, die dorthin pilgern, um die große, weite Welt zu sehen. Vergeblich. Sie treffen nur andere Schröders – aus Hamburg, Dortmund und sonstwoher. Schließlich schaute Helene Grass zusammen mit Karin Reschke einem pensionierten Croupier über die Schulter – und förderte Philosophisches zutage. Travemünde, so seine Erkenntnis, lade ein zur Langeweile. Die sei durchaus erstrebenswert: schärfe sie doch die Sinne. Langeweile als Gegenentwurf zur Vergnügungsmaschinerie.

Miroslav Nemec als Häusermakler und Konsul

Wer von dem bekannten „Tatort-Kommissar“ erwartet hatte, er lese Texte von Thomas Mann, lag falsch. Nemec spielte sie! Die Hausverkaufsszene aus den Buddenbrooks und die Novelle „Tonio Kröger“ nahmen beide Bezug auf das Ausstellungsthema „Herzensheimat“ im Buddenbrookhaus, wenn auch auf unterschiedliche Weise.

Miroslav NemecMiroslav Nemec

Tonio Kröger, erfolgreich dichtender Bohemien mit Sehnsucht nach dem „normalen Leben“, stattet seinem Elternhaus in Lübeck einen Besuch ab und erkennt erschreckt und sprachlos, wie sehr sich alles gewandelt hat. Schließlich wird er auch noch mit einem Gauner verwechselt. Er könnte den Irrtum schnell aufklären, indem er auf seinen Vater verweist, doch – und das stellte Nemec mit glaubhaft lässiger Arroganz dar – dazu hat er keine Lust.

In der Hausverkaufsszene tritt Tony erneut auf, diesmal nach zwei Ehen als Frau Permaneder, stolz auf ihre gesellschaftliche Position und gleichzeitig verbittert angesichts der wirtschaftlichen Notlage der Familie. Ihr Bruder Thomas sieht sich gezwungen, das Haus in der Mengstraße zu verkaufen. Er engagiert den gewieften, unsympathischen Makler Sigismund Gosch, den Nemec mit heiserer Stimme und auf die Seite geneigtem Kopf zum Leben erweckte.

Käufer ist ausgerechnet Konsul Hermann Hagenström, Tonys ewiger Widersacher. Man sah die platte Nase, die zu dicht auf dem Schnurrbart aufliegt, förmlich vor sich, als Miroslav Nemec den Konsul auftreten ließ. Das schmatzende Geräusch beim Atmen, die Merkwürdigkeiten mit der Zunge, das alles führte er dem Publikum plastisch vor Augen – freilich, ohne den Text zu vernachlässigen. Ein Vollblutschauspieler!

Die Lesungen, denen die Kostproben entnommen sind, machten Spaß. Doch das Festival bewirkte mehr. Die Textpassagen, klug und abwechslungsreich ausgewählt, regten dazu an, manchen Roman endlich – oder endlich einmal wieder – in voller Länge zu lesen.

Karla Letterman
Karla Letterman
Karla Letterman ist Krimiautorin aus dem Harz mit Leidenschaft für Norddeutschland, Nebel und Schattenboxen. Lebt seit 2017 in Lübeck. Höchst interessiert an Filmen, Literatur und Sprechkunst. Thomas Schmitt-Schech ist nicht nur Fotograf mit unbezwingbarem Hang zu Nachtaufnahmen, sondern auch nebenberuflich als Tai-Chi- und Qigong-Lehrer unterwegs. Karlas liebster Lichtfänger und Schattenboxer. www.karla-letterman.de / www.lichtblick-fotokompass.de

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