Günter Grass rauf und runter. Im Jahr seines 90. Geburtstages mag man vor allem in Lübeck kaum glauben, dass es noch wesentliche Mengen an Neuem gibt, was über den Literaten mitzuteilen wäre.
Dann kommt Uwe Neumann mit einer bleischweren Anthologie daher und beweist auf fast 1000 Seiten: Es gibt nicht nur noch vieles zu entdecken, man kann auch ein höchst amüsantes Buch daraus machen: „Alles gesagt? Eine vielstimmige Chronik zu Leben und Werk von Günter Grass“ und, so das Versprechen des Autors, „kein germanistischer Ballast.“
Vielstimmig, wohl wahr. 380 bislang unveröffentlichte Briefe an Grass bilden das Kernstück der Anthologie, die Freundliches und höchst Unterhaltsames, weil oftmals die Urheber entlarvend Feindliches versammelt, dazu eine Prise Eitelkeit und ahnungslose Dampfplauderei aus den Jahren 1955 bis 2015 zusammenträgt. Zehn Jahre hat das gebraucht, allein das Personenregister ist 58 Seiten stark. Man staunt, wen Günter Grass so alles umgetrieben hat. Natürlich sind es zuvorderst Schriftsteller und Politiker, die zu Wort kommen, selbstverständlich auch Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, mit dem Grass eine besonders unterhaltsame Zeitgenossenschaft verband, aber eben auch Menschen, die man nicht im Dunstkreis des Nobelpreisträgers vermutet.
Da sind unter B die Beatles (John Lennon: „Ich möchte noch n’ Wallace-Film auf englisch drehn oder die Hundejahre auf deutsch und Grass drüber wachsen lassen mit Ringo in der Blechtrommel“), Boris Becker, der von einem zufälligen Treffen berichtet, Bono, der den Blechtrommel-Film „wunderbar“ findet, David Bowie, der „derselben Meinung wie Günter Grass“ ist, „dass Berlin das Zentrum von allem ist, was in Europa passiert und in den nächsten Jahren passieren wird“. Benedikt XIV. steht unter R wie Ratzinger, er übermittelte dem Autor „zur Feier des 85. Lebensjahres am 16. Oktober 2012“ von Herzen den apostolischen Segen. Festgehalten sind köstliche Attacken von rechts wie von links: Franz Josef Strauß sah angesichts des „deutschen Oberdichters“ rot, Rudi Dutschke, der „die politische Bekämpfung von Günter Grass“ wichtiger „als alles andere“ nannte, schwarz. In der DDR galt Grass als gestandener Antikommunist. Deckname „Bolzen“. Neumann lässt seine Leser an der realsatirischen Prosa der zuletzt 2000 Seiten starken Stasi-Akte teilhaben.
Der VDRD kommt zu Ehren. Das ist der Verein der Rattenliebhaber in Deutschland, der Grass die Ehrenmitgliedschaft anträgt, weil im Roman „Die Rättin“ alle Eigenschaften und Vorzüge der Tiere beschrieben seien. Auch die AZWU, die Aktion zur Wiedereinbürgerung des Uhus, hat sich an den Schriftsteller gewandt und der Sänger Peter Kraus, der um Grass-Texte bat, weil er sich als Interpret von einer „völlig neuen Seite“ zeigen wollte. Man weiß: Dieses Geschäft kam nicht zustande.
„Das soll alles ich sein?“, habe heiter staunend Grass gefragt, als er ihm das fast fertige Werk vorlegte, berichtete Neumann im Günter Grass-Haus einem ausgelassenen und auffallend jungen Publikum. Neumann ist Lehrer für Deutsch und Französisch an der Stormarnschule in Ahrensburg. Seine elfte Klasse − er begeistert sie gerade für „Die Buddenbrooks“ − hat sich den Besuch der Lesung nicht nehmen lassen. Sein Unterricht, so heißt es, ist fast so anekdotenreich wie seine Lesung. Das Buch ist kurzweilige Lektüre für lange Abende.
Alles gesagt? Eine vielstimmige Chronik zu Leben und Werk von Günter Grass“, Hrg. Uwe Neumann, Steidl-Verlag, 2017, 992 Seiten
Das Buch ist in den inhabergeführten Buchhandlungen Prosa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.
Titelfoto: Günter Grass, (c) Das blaue Sofa / Club Bertelsmann