Michael Fuchs (Klaus), Ali Kemal Örnek (Musiker), Edgar Herzog (Musiker), Peter Imig (Musiker), Foto: Marlène Meyer-Dunker

„Liederabend“ – eine heftige Untertreibung
Standing ovations in den Kammerspielen für das Schauspiel "Istanbul"

„Hier ist das 1. Türkische Fernsehen mit der Tagesschau. Ankara. Wieder haben 4.000 deutsche Gastarbeiter die türkische Grenze passiert. Da viele deutsche Arbeitnehmer aus strukturschwachen, ländlich geprägten Gebieten wie Bayern, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein kommen, werden Fortbildungsmaßnahmen seitens der türkischen Regierung in Erwägung gezogen …“

In den Kammerspielen haben Schauspielchef Pit Holzwarth (Regie), Werner Brenner (Ausstattung) und Peter Inig (Musikalische Leitung) mit dem Stück „Istanbul“ von Selen Kara, Torsten Kindermann und Akin E. Sipalvon eine verkehrte Welt gebaut: Stell dir vor, das Wirtschaftswunder wäre kein deutsches, sondern – zum Beispiel – ein türkisches gewesen, stell dir vor, die so genannten Gastarbeiter seien nicht von Südost nach Nordwest, sondern in umgekehrte Richtung gezogen. Der Kniff funktioniert, das Publikum fängt Feuer.

„Liederabend“ ist die Holzwarth-Inszenierung überschrieben und das ist eine heftige Untertreibung. Zu genießen sind eine kecke Tragikomödie, betörende Interpretationen von Songs der türkischen Pop-Diva Sezen Aksu, zu erleben ist vor allem beeindruckendes Schauspiel. Michael Fuchs, neu im Ensemble, erweist sich hier in seiner nach Mackie Messer zweiten Hauptrolle in Lübeck als Glücksgriff, das gilt insbesondere für seine prachtvolle Singstimme. Er gibt den Gastarbeiter Klaus Gruber, den die wirtschaftliche Not aus Lübeck nach Istanbul treibt. Seine Frau Luise (Sara Wortmann) und die kleine Tochter wird er mehr als drei Jahre nicht sehen. Nun muss er sich zurechtfinden zwischen Fremden mit fremder Sprache, in fremder Kultur.

Edgar Herzog (Musiker), Peter Imig (Musiker), Urs Benterbusch (Musiker), Susanne Höhne (Ela), Jonathan Göring (Musiker), Foto: Marlène Meyer-Dunker Edgar Herzog (Musiker), Peter Imig (Musiker), Urs Benterbusch (Musiker), Susanne Höhne (Ela), Jonathan Göring (Musiker), Foto: Marlène Meyer-Dunker

Zwar ist da Ismet (Henning Sembritzki), der die ersten Schritte in die unverständliche Welt begleitet, aber der tut dies mit freundlicher Herablassung. Ein Stückchen Heimat wäre da ein Pflaster auf die heimwehkranke Seele. Echter deutscher Filterkaffee könnte der Wundversorgung dienen, doch in Murats (Johann Moritz von Cube) „Café“ gibt es nur çay. Ein liebender Mensch könnte helfen, die geheimnisvolle Ela (Susanne Höhne) zum Beispiel, doch wirklich einlassen kann der verwaiste deutsche Ehemann und Vater Klaus Gruber sich nicht auf sie. Wie zwischen Baum und Borke klemmt er zwischen den Welten und stirbt am Ende an gebrochenem Herzen. Eine traurige Geschichte? Zumindest zieht Melancholie durch die Kammerspiele, die sich aber, dem augenzwinkernden Umgang mit kulturellen Missverständnissen sei Dank, immer wieder mit lautem Lachen paart. Man darf sich freuen an und wohlfühlen in diesem Stück, auch, weil der Zuschauer mit dargereichtem Tee und Gebäck eine Ahnung von türkischer Gastfreundschaft bekommt.

Werner Brenner hat zu diesem bittersüßen Abend eine Bühne gebaut, die mit Teekisten, einer Bar-Theke und einer winzigen Wohnzelle für den Gastarbeiter Klaus die Handlung auf einer zweiten Ebene erzählt. Im Hintergrund sitzen die musikalischen Helden der Nacht: Urs Bentersbusch (Gitarre, Chor), Jonathan Göring (Perkussion, Klavier, Chor), Edgar Herzog (Klavier, Chor), Peter Imig (Bass, Violine, Chor) und Ali Kemal Örnek, der den Gesang einstudiert hat, der ebenfalls singt und die Instrumente Ut, Ney, Saz, Davul und Darabukk spielt und ganz besonders gefeiert wird. Wenn es passt, unterstützt Henning Sembritzki die Band mit Gitarre und Bass. Gesungen wird übrigens auf Türkisch, Übersetzungen gibt es via Übertitel.

Johann Moritz von Cube (Murat), Michael Fuchs (Klaus), Susanne Höhne (Ela), Henning Sembritzki (Ismet), Musiker, Foto: Marlène Meyer-DunkerJohann Moritz von Cube (Murat), Michael Fuchs (Klaus), Susanne Höhne (Ela), Henning Sembritzki (Ismet), Musiker, Foto: Marlène Meyer-Dunker

Am Ende passiert, was seit Jahren berechenbar ist, wenn sich das Lübecker Schauspiel an einen musikalischen Abend macht: Das Publikum feiert das Erlebte begeistert mit Standing ovations, bekommt eine opulente Zugabe – und darf die Erkenntnis bestaunen, dass Theater, wenn nicht die Welt, dann doch die Wahrnehmung im Umgang mit den Mitmenschen verändern kann.

Die letzte Aufführung in dieser Spielzeit ist am 20. Juni 2019 um 20 Uhr in den Kammerspielen.


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