Vergleichbar der Aufgabe, die Quadratur des Kreises konstruktiv zu beweisen, ist es, aus einem romanhaften Wälzer, der zudem noch durch Fabulierlust besticht, ein bühnenwirksames Stück zu machen. Das Theater Lübeck gibt nicht auf, das zu versuchen. Nach allerlei Experimenten mit den epischen Großtaten des lübschen Hausdichters Thomas Mann in den vergangenen Spielzeiten folgte in dieser nun der andere Hansestädter und Nobelpreisträger, der von Lübeck adoptierte Günter Grass.
In der Blechtrommel von 1959, Beginn der Danziger Trilogie, setzt er sich mit seiner Heimat und seiner eigenen Vergangenheit auseinander. Sprach-, auch bildgewaltig lässt er die Zeit vor, im und nach dem Hitlerregime erstehen. Als historischer Roman wird sein Romandebüt deshalb gelesen und seine Hauptfigur, der Blechtrommler, in die Reihe der großen Schelme eingeordnet, ein Nachfahre von Simplizissimus und wie der ein Kriegskind. Seine Entwicklung fasziniert zudem, seine Art, sich mit seinem Ego und der Umwelt auseinanderzusetzen.
Eine filmische Deutung fand Volker Schlöndorff 1979. Sie ist bis heute gültig und packend. Lübecks neue Bühnenbearbeitung (Premiere: 1. Oktober 2016) von Peter Schanz, in der Nähe von Kiel lebender Autor und Dramaturg, ist diesem Film stark verpflichtet, zitiert vieles daraus. Gleich anfangs treten die Oskar-Darsteller in Masken auf, die David Bennents Gesicht zeigen, des Oskars im Film. Gleich fünffach treten sie auf, im Unterschied zum Film aber als Erwachsene. Das ist sinnvoll, denn Schanz lässt das Spiel in der Heil- und Pflegeanstalt beginnen, in die Grass seinen Romanhelden erst 1952 führte, also im Alter von knapp 30 Jahren. Zu der Zeit hatte der Held doch noch zu wachsen sich entschlossen.
In dieser Anstalt ist Oskar ziemlich am Ende seiner epischen Existenz. Er verlangt von seinem Pfleger Bruno (Andreas Hutzel) weißes Papier, auf das er seine Erinnerungen bannen möchte. Jede der fünf Figuren der Lüb
ecker Version schlüpft später in eine oder mehrere Rollen, die in den Erinnerungsszenen Oskars Hauptperson sind. Da das sowohl Männer als auch Frauen sind, sind auch die fünf Oskars weiblich und männlich. Alle sind zunächst weiß gekleidet (Kostüme und Bühne: Annette Breuer), tragen T-Shirt und Hose, gewinnen Farbe, wenn sie in unterschiedliche Rollen schlüpfen. Die episodische Handlung folgt dem Roman chronologisch, allerdings nur auszugsweise und, wie Schlöndorff, nur mit Szenen aus den ersten zwei der drei Teile des Buches. Wie der Film stellt Schanz die an den Anfang, in der Großmutter Anna unter ihren weiten Röcken auf dem Feld geschwängert wird. Auch weitere, besonders einprägsame Episoden der Bühnenfassung sind aus dem Film bekannt, Leben und Tod der Mutter etwa, das Fronttheater, auch das drastische Verschlucken des Parteiabzeichens durch den Vater. Teils werden sogar filmische Sequenzen verwendet (Videos: Thomas Lippick) und selbst Kleinigkeiten übernommen. Ein Beispiel ist Agnes am Klavier im Duett mit Jan, ihrem polnischen Liebhaber. Sie stimmen die Operettenschnulze Wer uns getraut aus dem Zigeunerbaron an.
Die Retrospektive rollt also das Leben Oskars auf. Das ist zumeist spannend gemacht, vor allem durch die plastische Leistung der Schauspieler. Sie haben eine Unmenge Text zu bewältigen, wenig Dialogisches, zumeist Episches. Es wird oft auf die fünf Oskars aufgeteilt und wirkt manches Mal wie ein häppchenweise aufgeteiltes Referat. Im Nu müssen sie dann in eine Rolle schlüpfen, zu Erinnerungsfiguren einer psychiatrisch-therapeutischen Aufarbeitung werden. Immerhin trägt Oskar Schuld am Tod von Jan Bronski, Alfred Matzerath und Roswitha Raguna, Schuld die er nicht verdrängt, zu der er sich bekennt. Die Szenen beweisen das. Nadine Boske etwa spielt darin die kindliche Maria, die Oskar zu seinem dritten Trommelstock verhilft, bevor sie Geliebte des Vaters wird. Astrid Färber macht als Anna eine wirklich gute Figur, auch imponierend als Roswitha Raguna. Patrick Berg gestaltet intensiv den Hausmeister Kobyella oder mimt lebhaft Bebra, Oskars kleinwüchsigen Impresario. Großartig ist hier die Welt der durch Hitlers Euthanasie-Bestrebungen Bedrohten durch Puppenspiel aufgefangen. Vincenz Türpe ist als Spielwarenhändler Markus ebenso eindringlich wie Will Workman als Fischer oder Oberleutnant. Grandios gestalten Susanne Höhne (Oskars Mutter Agnes) und Henning Sembritzki (Jan Bronski als Geliebter der Mutter). Peter Grüning tritt als Alfred Matzerath in der Maske seines filmischen Äquivalents Mario Adorf auf. Im Spiel kann er überzeugen, ist nur leider zeitweise nicht verständlich.
Schwer fasslich machen den Inhalt zudem originale Textpassagen, die optisch eingeblendet werden. Sie verführen zum Mitlesen, lenken dadurch vom Spiel ab. Als weitere Brechung dient zudem Günter Grass selbst, grandios gespielt von Andreas Hutzel, in Sprache und Habitus verblüffend genau getroffen. Dieser „Grass“ kommentiert das Geschehen mit Inhalten aus seinen Reden, aus Erläuterungen, aus politischen Statements oder aus anderen epischen Gestaltungen. Dies erhöht die Textfülle nicht immer zum Vorteil, zumal in der viel zu langen Schlussszene. Dort fühlt der Zuschauer sich verschaukelt, wenn Grass sich zwischen allen acht durch die Luft schwebenden Darstellern hindurchbewegt. Sie zitieren munter Geistesbröckchen, und er seine, hier nur phrasenhaft wirkenden Anmerkungen zur Einwanderung, zur Politik oder zu seinem Schaffen.
So bleibt zum Schluss trotz des rauschenden Premierenbeifalls ein zwiespältiges Gefühl, zumal die Bühnenmusik von Felix Huber mit einem Streicherhintergrund vom Band, dem einsamen, sehr sparsam genutzten Klavier rechts und dem rudimentären Schlagzeug links zerfasert wirkt und keine wirkliche Atmosphäre schafft. Andreas Nathusius‘ inszenatorisches Bemühen hat große Momente. Geschickt lässt er mit groß projektierten Bildern einer Handkamera die Welt aus Sicht Oskars verdeutlichen, gibt Einblicke in die Räume der beweglichen Bühnenwelt. Reizvoll ist auch, den Abend mit einer Befragung Lübecker Bürger zu beginnen. Vom Bürgermeister bis zu Passanten auf der Straße reichte die. Sie bestätigen, dass der Roman, der bei seinem Erscheinen vor knapp 60 Jahren Furore machte, vielen noch vor Augen ist, seine Fragen, auch die seines Autors heute noch gelten. Sie alle beantworten zu wollen wäre ein (zu) weites Feld.
Fotos: (c) Thorsten Wulff