Mein Tag am letzten Donnerstag war lang und lecker, voll gefüllt mit Kunstgenuss für alle Sinne und neue Einblicke gebend auf den Jahrhundert-Roman: „Der Zauberberg“ von Lübecks Literatur-Nobelpreisträger und Vorzeige-Schriftsteller Thomas Mann.
Dieses über 1000-seitige Werk, das Thomas Mann in 12 Jahren schrieb, war der eigentliche Grund, warum er den wichtigsten Literaturpreis erhielt, verriet die Mann-Kennerin und seit Februar 2024 Direktorin des Buddenbrookhauses, Dr. Caren Heuer. Weil aber ein Jury-Mitglied des Nobelpreis-Komitees den Roman nicht mochte, wurde der Roman „Buddenbrooks“ als Hauptgrund genannt.
„Es war uns wichtig, in unserer Jubiläumsausstellung zum Roman deutlich zu machen, worin die Modernität des Textes besteht, nämlich darin, sich Themen und Fragen zu widmen, die die Menschheit seit Anbeginn der Zeit beschäftigen. Der Zauberberg mag nun 100 Jahre alt sein, an seiner Frische und Relevanz hat er nichts verloren. Das wollen wir zum Ausdruck bringen“, erklärte Frau Heuer bei der Vorbesichtigung der Schau „Fiebertraum und Höhenrausch“ im St. Annen-Museum, wo das Buddenbrookhaus mal wieder zu Gast ist, weil sich die Restaurierung und Wiedereröffnung des Stammhauses bekannterweise wegen politischer Querelen bis vermutlich 2031 verschiebt.
Der berühmte Roman „Zauberberg“ erzählt die Geschichte des jungen Hamburgers Hans Castorp, der für drei Wochen auf Urlaub in ein Schweizer Lungensanatorium fährt, um am Ende sieben Jahre zu bleiben. Dort, auf dem „Berghof“ trifft sich die tuberkulosekranke Elite Europas und konfrontiert Hans Castorp mit den großen Themen des Lebens: Tod und Leben, Begehren und Liebe, Krieg und Frieden. Dies geschieht in Fieberträumen und im Höhenrausch der eingebildeten Krankheiten. Erst der „Donnerschlag“ des Ersten Weltkrieges beendet im Roman alles Sinnieren. Inspiriert von einem Besuch in einem Davoser Sanatorium in den Schweizer Alpen, wo Thomas Mann seiner kranken Frau Katia einen Besuch abstattete, begann er 1913 mit dem Schreiben des Romans. 12 Jahre später, nach dem Krieg und dem Zusammenbruch des Kaiserreiches und der Neukonstituierung der Gesellschaft als demokratische Republik, vollendete er 1924 das Werk, welches unter dem Namen „Magic Mountain“ zu Weltruhm gelangte.
Orientiert an der markanten Zahl „7“, die in verschiedenster Form im Roman auftaucht: (Hans Castorp bleibt sieben Jahre in Davos, sieben Mal täglich muss er Fieber messen, seine Zimmernummer 34 im Sanatorium ergibt 7 in der Quersumme, etc.), ist die Ausstellung in sieben Kapitel unterteilt. Sie beginnt mit dem Arbeitszimmer von Thomas Mann (als Wandfoto), wo auch das berühmte Porträt von ihm von Max Beckmann hängt. Gleichzeitig symbolisiert ein Sarg bereits eines der Hauptthemen des Buches, nämlich den Tod. Ein weiteres Symbol, das immer wieder in Form von Installationen auftaucht, ist der Bleistift, der als Phallus-Symbol für erotische Phantasien und eventuell auch für die verkappte Homosexualität von Thomas Mann selbst steht. Im 2. Raum/Kapitel begibt sich der Besucher in die Diagnose. Man betritt das Sanatorium des „Berghofes“ (alte Fotos aus Davos zeigen Haus und Landschaft), wird mit altem Röntgengerät durchleuchtet und sieht das berühmte Fieberthermometer. Geschichte und Aktualität werden in einem Schaukasten präsentiert, wo neben dem blauen Spucknapf für Lungenschleim eine moderne FFP-2-Maske ausgestellt wird.
Die weiteren vier Ausstellungsabschnitte spiegeln das Innenleben des Hans Castorp. In Fieber- und Schneeträumen gibt er sich der Erotik und der Begierde hin. Psychedelische Video-Installationen in rot oder auch nackte Jünglingsfiguren im Schnee verraten viel über Phantasie und Wunschdenken, obwohl es sich bei den nackten Knaben und Männern um antike Statuen handelt. Viele der gezeigten Exponate spielen mit einzelnen Textpassagen oder deren Bedeutung in der Gegenwart.
So korrespondieren gezeigte Zitate und Textpassagen von Menschen der Gegenwart mit den zwei politischen Hauptfiguren im Roman: die verfeindeten Männer - der helle Vernunftmensch Lodovico Settembrini, der an Frieden und Freiheit glaubt und der dunkle Extremist Leo Naphta, der Pessimist und Anhänger des Autoritären. Ähnlich wie heute geht es also um die Spaltung in der Gesellschaft. Die Zitate, die in schwarz auf weiß, beziehungsweise weiß auf schwarz an den Wänden hängen, stammen zum Beispiel von Kanzler Scholz oder Osama Bin Laden. Allerdings sind die Namen nicht zugeordnet und fordern den Betrachter auf, zu ergründen, wer dies oder das wohl gesagt hat.
Die Ausstellung endet wie im Roman mit Gewalt und Krieg. Gezeigt wird unter anderem ein Original-Helm mit einem Einschussloch. Es bleibt die Schlussfrage: „Wird aus diesem Weltfest des Todes einmal die Liebe entsteigen“?
Einen gänzlich anderen Ansatz wählt die berühmte englische Künstlerin und Dichterin Heather Phillipson, die die zweite Ausstellung in der Kunsthalle eingerichtet hat. Für ihre Einzelausstellung „Extra Time“ (Nachspielzeit) hat sie einen begehbaren Parcour vom ehemaligen Kirchenraum des St. Annen-Klosters bis hoch in den dreigeschossigen Neubau der Kunsthalle geschaffen, also rauf auf den Zauberberg. Dabei bezieht sich die Künstlerin auf das Motiv der Zeit, die sich für den Protagonisten Castorp im Sanatorium als rasend herausstellt, denn schnell werden aus geplanten drei Wochen sieben Jahre. Dann wiederum scheint sich die Zeit im Kreise zu drehen.
Heather Phillipson (1978, UK) ist eine preisgekrönte Künstlerin und Dichterin. Sie hatte Ausstellungen weltweit (New York, Paris, Sao Paulo, Frankfurt oder bei der Biennale in Venedig) und war zum Beispiel 2022 für den Turner-Preis nominiert. Ihre künstlerischen Projekte beschreibt sie als „Quanten-Gedanken-Experimente“, in denen sie Gedachtes und Gemachtes zu vergessen versucht, um sich auf die jeweils neue Situation einzulassen. Für ihre raumgreifenden, surrealen und oft humorvollen Installationen arbeitet sie in den unterschiedlichsten Medien, wie Video, Foto, Skulptur, Malerei, Musik und Poesie. Damit erlaubt sie den Besucher*innen ein Eintauchen in andere Welten.
Genau so ist sie auch in Lübeck vorgegangen. Zunächst ist sie durch die Stadt gestromert, hat sich mit Menschen, Räumen, Geräuschen und der Natur beschäftigt, genauso wie mit den Räumlichkeiten des St. Annen-Museums. Dabei ist sie auch in den frühen Morgenstunden auf Sportplätzen und in Parks auf laut lärmende Krähen gestossen, die in der aktuellen Ausstellung quasi als Spielleiter auftreten und die Besucher durch verschiedene Visionen und Gedankenwelten zum übergeordneten Thema Zeit führen.
So begegnet einem zu Beginn im Foyer eine große Fläche voller grüner Fußballplätze mit Krähen, die sich an frischen Orangen erfrischen, beobachten, wachen und spielen. Die Krähen gehören zu den klügsten Vögel überhaupt, sie sind Allesfresser, benutzen Werkzeuge und scheinen miteinander zu kommunizieren. Bei Heather Phillipson sind sie Problemlöser, Unheilstifter, Aasfresser, Scherzkeks oder Aktivist, also ein wichtiger Teil unseres Ökosystems.
In einem verschlossenen Raum, den man nur durch ein kleines Guckfenster betrachten kann, sieht man die Krähen über einem Bett kreisen, in dem eine Patienten-Krähe (Zauberberg-Sanatorium als Assoziation?) liegt. Ein Stockwerk höher geht es um Protest und Widerstand. Lautstark (Sound-Collagen) diskutieren und demonstrieren die Vögel, bilden ein Protestcamp mit Kuppelzelt und lassen orange Farbe über Gemälde laufen, wie bei Protestaktionen der „letzten Generation“ gegen den ungezügelten Klimawandel. Sie stellen die Frage nach einer Zeitenwende, vor der wir heute stehen. Die Künstlerin durchleuchtet diese Kipppunkte in einem Gedankenspiel mit sich selbst, um das Umkippen der Gesellschaft auf den verschiedensten Ebenen von Politik, Wirtschaft, Ökonomie und Ökologie und Klima noch zu stoppen.
Beim Erklimmen des symbolischen Zauberberges, also im Obergeschoss der Kunsthallen, gelangt der Gast ins Licht bis in den Himmel. An einem Seil kreisen die Rabenvögel, um die Zeit als ewige Bewegung zu symbolisieren: Zeit verläuft kreisförmig, also befindet sie sich eigentlich auch im Stillstand. Dazu zeigt sie großformatige Wolkenbilder, die wie Tiere aussehen, poetische Pferde und Hunde, sowie ein süßes Kätzchen bevölkern die Wände. „Nichts ist begrenzt. Alles ist möglich“, sagt die Künstlerin dazu im Gespräch mit der Kunsthallen-Chefin Noura Dirani. Leider ist die Britin recht scheu und spricht nicht gerne mit der Presse. So war sie bei der Schau auch nicht zu sehen.
Dafür war aber mit dem Kulturtag zum Zauberberg noch längst nicht Schluss; denn abseits der beiden Ausstellungen gibt es im Jubiläumsjahr zum Roman ein vielfältiges Programm. So werden vom Buddenbrookhaus spezielle Spaziergänge durch die Heimatstadt von Thomas Mann mit Bezug zum Zauberberg angeboten. Dabei kommt man natürlich auch am ältesten Bürgerhaus der Hansestadt, der Löwen-Apotheke in der Königstraße vorbei. Die lokale und überregionale Presse war dementsprechend in die Wunderkammer der altehrwürdigen Apotheke, die heute von dem rührigen Apotheker Marcus Niendorf in 4. Generation betrieben wird, geladen.
Die dortige Löwen-Manufactur hat sich zum Thema „Zauberberg“ aus medizinischer Sicht so einiges einfallen lassen. Niendorf und seine Mitarbeiter*innen haben für die verschiedensten Krankheitsbilder, die auch die Protagonisten des Romans befallen haben, diverse Cremes, Öle, Tinkturen und Salben kreiert. Bei schlechter Luft hilft zum Beispiel „Acqua di Lubecca“ aus Zitrone, Eukalyptus und Weißtanne, um den Hals zu beruhigen. Auch ein besonderes „Mittel gegen die große Gereiztheit“ wurde destilliert, nämlich einen Gin, den wir dort verkosten durften. Dazu wurden wunderbare Häppchen aus dem Wiener Kaffeehaus gereicht.
Als musikalische Heilungsprozedur war ein Gesangspart von der Sängerin Hanna Szpemralski und der Harfenistin Jaa Eben, die in Schwesterntracht auftraten, geplant. So wurden Lieder von Schumann, Bach und auch Mozart angestimmt. Zwischendurch sollten sich alle durch kleine Turnübungen locker machen, bevor der Journalist*innen-Chor gemeinsam das berühmte „Lindenbaum-Lied“ aus dem Roman (Am Brunnen vor dem Tore) erstaunlich schön intonierte. Ähnliche Aktionen sind im Laufe der Ausstellungszeit bis Anfang März eingeplant.
Dann ging es noch einmal zurück in das angegliederte Kunstcafé im St. Annen-Museum, um das Art-Dinner von Heather Phillipson zu probieren. Da die Künstlerin selbst Veganerin ist, gab es Köstlichkeiten wie drei verschiedene Risotto und eine leckere Süßspeise mit Kokosnuss. So endete ein wunderbarer Kunst-Tag der besonderen Art und lädt ein in der nächsten Zeit, nicht nur die Ausstellungen ausgiebig zu besuchen, sondern auch das vielfältige Beiprogramm zu genießen.
So wird es dieses Jahr im Rahmen der Retrospektive bei den Nordischen Filmtagen den Zauberberg in verschiedenen Filmen zu sehen geben. Gespannt sein darf man auch auf das Speed-Dating-Format für Senioren, eine Zusammenarbeit mit dem Senioren-Beirat der Hansestadt, wobei unter Zeitnahme von Frau Dirani jeweils 7 Minuten zum Kennenlernen und Flirten zur Verfügung stehen, um sich vorzustellen. (17.10.24/ 20.02.25 - Speed-Dating für hetero Oldies, sowie 28.11.24 Speed Dating für queere Oldies).
Noura Dirani versteht diesen Programmpunkt sowohl als Öffnung des Kulturbetriebes für alle, als auch ein Instrument gegen Vereinsamung, was ja gegenwärtig auch sehr politisch diskutiert wird. Desweiteren sind Sonntagsdialoge, Rundgänge, Workshops, Partys, Talks und Dinner geplant. Die gesamte Laufzeit der beiden Ausstellungen geht bis zum 02.03.2025.
Fotos: (c) Holger Kistenmacher