Filmszene aus 'Über die Unendlichkeit', (c) Neue Visionen Filmverleih

NFL 2023
Meine persönlichen Film-Highlights der 65. Nordischen Filmtage

Nachdem die Preise verteilt und die Kinos wieder auf Normal-Betrieb umgestellt sind, wird es Zeit, noch meine persönlichen Lieblingsfilme des Festivals kurz vorzustellen.

Natürlich musste ich mir den letzten offiziellen Spielfilm des diesjährigen Ehrenpreis-Gewinners Roy Andersson noch anschauen, den ich 2019 irgendwie verpasst hatte. Mit „Über die Unendlichkeit“, für den er in Cannes die silberne Palme für die beste Regie gewann, hatte er seine Reihe an Episodenfilmen über das menschliche Wesen abgeschlossen. Wie immer in tristen Farben, aber mit großem inszenatorischen Aufwand lässt er wieder eine ganze Riege an bleich geschminkten Gesichtern von Allerweltsleuten auftreten: Da jammert sich ein älterer Mann beim Arzt aus, weil er den Glauben verloren habe. Sein Problem ist, er arbeitet als Pastor. Es gibt viele Szenen, in denen Büros, anonyme Bürokraten und hilflose Menschen, meist aus der Arbeiterklasse, vorkommen, die abgewiesen werden und der Willkür ausgesetzt sind. Das hat was von Kafka, ist aber auch voller Humor.

Seine Episoden und Miniaturen haben in der Regel keinen Anfang und kein Ende. Es handelt sich um Collagen mit feinem Witz und mit Scharfblick erarbeitet, gefilmt mit unbeweglicher Kamera aus einer Position. Selbst eine ganze Straßenbahn hat er in seinem berühmten Film 'Studie 24' in Stockholm nachgebaut, um daraus Massen von Menschen aussteigen zu lassen, bevor der Zug 10 Meter vor der Kamera durch den Raum geschoben wird. Humor und Tragik sind auch bei seinem letzten Film genau austariert, so entsteht eine weitere Groteske, bei dem sich das Lachen fast schon verbietet - herrlich absurd! Der Film wurde im Rahmen der diesjährigen Hommage gezeigt.

Filmszene aus 'Songs of Earth', (c) Dag Asle MykløenFilmszene aus 'Songs of Earth', (c) Dag Asle Mykløen

Auch aus der Sektion der Dokumentarfilme habe ich dieses Jahr einiges gesehen: Hoch gepriesen und als norwegische Auswahl für den Oscar nominiert, kam der Naturfilm „Songs of Earth“ von Regisseurin Margret Olin daher. Co-produziert von den Filmgrößen Wim Wenders und Liv Ullmann. Unterlegt mit wunderschöner, teils fast schon einschläfernder Musik lässt die Regisseurin die Kamera per Drohne oder Hubschrauber über grandiose Landschaften aus Gletschern, Bergen und Tälern fliegen. Ihre Liebe zur Natur wurde ihr von ihrem Vater vererbt, der sie mit 6 Jahren erstmals bis zu einem Gletscher im Nordfjord mitnahm. Dieser magische Ort im Nordwesten Norwegens bildet die Kulisse für Gespräche und Wanderungen ihres mittlerweile 84jährigen Vaters und der singenden Mutter, denen beiden sie auch ihren Film gewidmet hat. Einziges Manko des Films ist seine Länge - hier wäre weniger, mehr gewesen.

Filmszene aus 'And the King Said, What a Fantastic Machine', (c) Alexander TikhomirovFilmszene aus 'And the King Said, What a Fantastic Machine', (c) Alexander Tikhomirov

Ganz anders dagegen die filmische Dokumentation von Maximilien van Aertryck und Axel Danielson über die Anfänge der Bilder mit der Camera Obscura bis zur Gegenwart ins Zeitalter der modernen Medien, wo sich jeder und jede als Influencer ganztägig ablichtet und irren Gefahren und Fake-News aussetzt. Das Ganze ist fulminant als Montage-Essay zusammengeschnitten und wirft ein Netz aus Fragen über Wahrheit und Wirkung von Bildern in unserer überdrehten Realität und Gegenwart auf. Manche Perspektiven sind absolut beängstigend, während anderes nur noch dumm, doof und absolut absurd rüberkommt. Titel des Films: „And the King Said, what a fantastic Machine“.

Filmszene aus 'Kino Leika', (c) 43e PARALLÈLE PRODUCTIONSFilmszene aus 'Kino Leika', (c) 43e PARALLÈLE PRODUCTIONS

Meine persönliche Lieblingsdoku stammt von dem Franzosen Veljko Vidak und heißt „Kino Leika“. Er spielt im Nirgendwo in Finnland, in der kleinen 9.000 Einwohner-Industrie-Stadt Karkkila, wo der finnische Star-Regisseur Aki Kaurismäki zusammen mit Freunden wie dem Schriftsteller Mika Lätti in einer ehemaligen Metallhüte ein Kino und eine Bar einrichten lässt. Seltsamerweise haben sich in diesem kleinen Ort mitten in den finnischen Wäldern eine ganze Schar an kreativen Menschen niedergelassen. Viele Bewohner, Freunde wie Musiker und Schauspieler aus alten Filmen von Kaurismäki und seinem Bruder Mika kommen beim Bau des Kinos zu Wort. Da werden alte Geschichten erzählt, während die Original-Oldtimer aus seiner Sammlung und aus seinen Filmen durch die Gegend kurven. Selbst Freund, Regie-Kollege und Kumpel Jim Jarmusch aus New York kommt zu Wort und erzählt eine lustige Begebenheit, als ihn Kaurismäki in Helsinki vom Flughafen abholte, das Verdeck seines fetten Cadillacs aber nicht schließen konnte, ihm dafür zum Aufwärmen aber seinen Hund Laika auf den Schoß setzte. Köstlich und wunderbar.

Filmszene aus 'Superposition', (c) Sine BrookerFilmszene aus 'Superposition', (c) Sine Brooker

Außerdem habe ich zwei besondere Spielfilme gesehen, die zwar keinen Preis gewonnen haben, aber trotzdem sehr sehenswert waren. Zunächst einen dänischen Thriller der Extraklasse: „Superposition“ von Karoline Lyngbye. Darin suchen Stine und Teit mit ihrem kleinen Sohn bewußt die Abgeschiedenheit und Isolation in einem schicken Waldhaus in Schweden. Er will dort an einem Podcast arbeiten über sich, seine Liebe und Ehrlichkeit, während seine Frau ein Buch schreiben will. Doch dann entdecken die beiden am anderen Ende des Sees ein Paar, das genauso aussieht wie sie selbst. Jetzt wird es absolut spooky und beängstigend, denn beide Paare streiten und kämpfen um den Sohn. Ein sehr spannender und doppelbödiger Film, der irritiert und verunsichert. Was ist Wirklichkeit, was vielleicht Wahn? Hochspannung pur.

Filmszene aus 'Solitude', (c) Pegasus PicturesFilmszene aus 'Solitude', (c) Pegasus Pictures

Ein ganz anderer Film kommt als Debütfilm der jungen Isländerin Ninna Palmadottir daher,“Solitude“ ein kleiner Film voll Einsamkeit, Freundschaft wie Trost und Hoffnung. Es geht um den Altbauern Gunnar, der seinen einsam gelegenen Bauernhof aufgeben muss, weil ein Stausee geplant ist, der sein Elternhaus überschwemmen wird. Er bekommt zwar dafür eine stattliche Summe Geld, muss dafür aber in die ungeliebte Hauptstadt Reykjavik ziehen. Auch dort lebt Gunnar sehr zurückgezogen und vereinsamt, bis sich der Nachbarjunge Ari in sein Leben drängt. Zunächst hat er seinen Haustürschlüssel vergessen, aber eigentlich ist er auch allein, weil seine Eltern zu viel arbeiten. Sie beginnen gemeinsam Schach zu spielen und freunden sich an. Doch dann wird durch ein Missverständnis diese kleine Freundschaft getrübt, weil man dem etwas verwildert aussehenden Gunnar sexuellen Missbrauch unterstellt. Zunächst als Babysitter gerne genommen, schlägt und bedroht Aris Vater den freundlichen, wenn auch grummeligen Gunnar. Aber am Ende keimt doch wieder Hoffnung für die beiden ungleichen Freunde auf, wie tröstlich.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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