Zum Auftakt der Pressekonferenz der 67. NFL erklärte die Kultursenatorin Monika Frank ihre Vorfreude und Neugier auf das Programm der Filmtage: „Der Herbst hat seine Freuden, nämlich die Nordischen Filmtage als absolutes Highlight des Lübecker Kulturlebens“. Gleichzeitig begrüßte sie die Rückkopplung zwischen den Institutionen und der Stadtgesellschaft und dem Filmfestival, welches als neue Filmvorführstätte nun das Kolk 17, Lübecks wunderschönes Figurentheater und Museum präsentieren darf.
Dort wird es im Rahmen des Festivals eine besondere Reihe mit Knetfiguren-Filmen und animierten Puppenstreifen zu sehen geben. Dafür wird das Kolosseum gestrichen, weil es nicht mehr den Ansprüchen von Barrierefreiheit entsprach und auch die Auslastungszahlen rückläufig waren.
Figurenfilme, die im Kolk 17 gezeigt werden, Foto: Holger Kistenmacher
Aber kommen wir erstmal zum eindringlichen Zahlenwerk der diesjährigen Filmfestspiele, bevor ich hier besonders sehenswerte Streifen empfehlen möchte. Zum heutigen Stand der Dinge wird es insgesamt 226 Kinovorführungen geben (davon 21 Schulkino-Vorführungen). Insgesamt kommen somit 191 Filme, von denen wiederum 107 auch als Stream zu sehen sein werden zur Aufführung. Nach Sektionen und Preisen (11 Filmpreise im Wert von 67.500 Euro) aufgelistet, bedeutet das, dass 13 Spielfilme um den NDR-Preis konkurrieren, während 12 Dokumentationen, 12 Specials, 23 Nordic Shorts (Kurzfilme), 7 Serien, 31 Filme der Retrospektive, 41 Filme des Filmforums als Schaufenster des norddeutschen Films (14 Langfilme und 27 Kurzfilme), 33 Streifen für kleine und große Filmfans im Rahmen der sogenannten Young Audience, 14 Produktionen im Fulldome als Immersion 360 Grad-Filme, sowie 5 Spielfilme im Rahmen der Hommage gezeigt werden.
Eröffnet werden die NFL am Mittwoch, den 5. November um 19 Uhr in der Stadthalle mit der Deutschlandpremiere der schwarzen Komödie „Therapie für Wikinger“ vom Oskar-prämierten dänischen Filmemacher Anders Thomas Jensen, der mit Mads Mikkelsen und Nikolaj Lie Kaas zwei Stars der dänischen Filmkunst als Hauptdarsteller präsentiert. Die beiden spielen Brüder, die nach der Entlassung des einen aus dem Knast (Kaas) nach einer vergrabenen Beute suchen. Das Problem dabei ist, dass der andere Bruder (Mikkelsen) an einer Identitätsstörung leidet und denkt, er sei John Lennon. Auf der Suche nach dem Geld stößt das ungleiche Duo auf Erinnerungen, die tiefer vergraben sind als jede Beute.
Thomas Hailer stellt den Eröffnungsfilm vor, Foto: Holger Kistenmacher
Bevor dieser schräge Film läuft. wird aber noch der Ehrenpreis der NFL an Bent Hamer, den großartigen norwegischen Filmemacher vergeben, der selbst 5 seiner Filme für die Hommage ausgesucht hat (u.a. Eggs, Kitchenstory und Factotum). Ebenfalls werden außerdem im Vorfeld des Eröffnungsfilms die Gewinner*innen des 3. Lübecker Drehbuchstipendiums 2025/26 bekannt gegeben.
In der Spielfilmsparte ist es sehr bemerkenswert, dass von den 13 Filmen diesmal sogar 6 Debütfilme von jungen Filmemacher*innen gezeigt werden, was laut Thomas Hailer erneut belegt, dass gerade die NFL ein besonderes Sprungbrett für viele nordische Filmkünstler sind. Dabei sind es oft sehr persönliche Geschichten von jungen „Stimmen, die sich trauen, ihren Blick auf unsere Welt auf die große Leinwand zu projizieren“. Das können Filme voller Traumata, Wut und Frust sein, wie in der Geschichte einer Neurologin, die mit ihrer eigenen Fehlbarkeit konfrontiert wird (Second Victims von Zinnien Elkington/Dänemark) oder bei der Altenpflegerin, die ihre Menschen, die bei ihr in Obhut sind, aus den Augen verliert, weil ihr Arbeitsalltag zu streng getaktet ist (Home Sweet Home von Frelle Petersen/Dänemark). Andere Spielfilme drehen sich um Kriege, zerrissene Familienbande oder Verletzungen in der Kindheit - also wie üblich meist harte Kost, die aber auch wieder mit wunderbaren Landschaftsaufnahmen kombiniert werden (The Love That Remains von Hlynur Palmason/Island). Ein Wiedersehen gibt es außerdem mit dem großen finnischen Filmemacher Klaus Harö, der mit „Nie Alleine“ eine wahre Geschichte über den finnisch-jüdischen Textilfabrikanten Abraham Stiller erzählt, der geflüchtete Juden vor den Nazis schützte, obwohl Finnland nicht von den Nazis besetzt war, den Menschen aber trotzdem die Deportation drohte.
Susanne Kasimir (Geschäftsführung), Monika Frank (Kultursenatorin), Thomas Hailer (Künstlerischer Leiter NFL), Foto: Holger Kistenmacher
Sehr enthusiastisch wurden dann die Serien, die von Jenny Zylka kuratiert werden, von ihr selbst angepriesen. Insgesamt 7 neue Serien werden jeweils mit 2 Teilen vorgestellt. Nach dem alten Frauenbewegungs-Motto „Das Private ist politisch“ hat sie spannende Serien für Binge-Watcher rausgefiltert, die mal spannend, mal komisch, mal dramatisch daher kommen, wie „Toxic Tom“ aus Norwegen, der ersten sogenannten Incel-Serie um Berit, der seine Wut auf Frauen mit Kommentaren im Internet rausbläst, bis er aufgedeckt wird und fliehen muss, allerdings in der Verkleidung als Frau. Mit „The Sami Wedding“ spielt eine weitere Serie in der Welt der Sami im Norden Norwegens, die gnadenlos eine schräge Familiendynamik seziert, besonders als der schwule Bruder der Braut mit seinem schwarzen Liebhaber aus den USA bei der Hochzeit auftaucht. Eine weitere Serie aus dem Sami-Umfeld kommt aus Finnland/Norwegen und erzählt das Geschehen rund um eine Vergewaltigung an einer 17-jährigen, die versucht, den Täter zur Verantwortung zu ziehen, dann aber selbst zum Opfer einer Rufmordkampagne wird. Eine sensible Sami-Jugendserie um Vergewaltigung, Queerness und soziale Missstände.
Die Sektion der Dokumentarfilme zeigt wiederum Filme, die man unbedingt schauen sollte, denn die Wahrscheinlichkeit, dass man sie später im Kino sehen kann, dürfte eher geringer sein, wie Thomas Hailer bei der Vorstellung betonte. Er empfahl besonders: „Mr. Nobody Against Putin“ von David Borenstein und Pavel Talankin (Dänemark/Tschechin), der die Indoktrinierung von Schülern in der russischen Kleinstadt Karabasch dokumentiert. Der Film musste aus Russland geschmuggelt werden, der Lehrer und der Filmemacher mussten nach Dänemark flüchten, welches überraschenderweise diesen Doku-Film für den Oskar nominiert hat - sehenswert!
Organisatoren, Kuratorinnen und Macher der 67. Filmtage, Foto: Holger Kistenmacher
Jazz-Freunde kommen bei dem schwedischen Film „Legacy“ von Manila Masri auf ihre Kosten. Darin werden US-amerikanische Jazz-Größen gezeigt (Dexter Gordon, Don Cherry und Quincy Jones), die nach Schweden gingen und dort ihre Familien gründeten. „Als Perle des Dokumentarfilms“ bezeichnete Hailer den Streifen „Fatherhood“, eine Co-Produktion aus Norwegen, Deutschland und Großbritannien, der drei junge Männer begleitet, die eine Beziehung zu dritt leben und dabei ein Baby bekommen, das von Kris ausgetragen wird. Ein skurriler Film über den ungewöhnlichen Weg zur Vaterschaft.
Dann stellte Hanna Reifgerst die Filme der Sektion Young Audience vor: insgesamt 33 Streifen für kleine und große Kino-Fans (davon 7 Spielfilme, 2 Dokumentationen, 2 Animationsfilme und 22 Kurzfilme). Besonders ans Herz legen wollte sie allen den Streifen „Honey“ aus Dänemark von Natasha Arthy, der die Geschichte der 13.jährigen Honey erzählt, die gerne in einer Band spielen würde, die sich aber um ihre chaotische Familie kümmern muss. Erst der totgeglaubte Großvater bringt Honey dazu, aufzubegehren. Ein berührender, humorvoller Film über den Mut, für sich selbst einzustehen.
Hanna Reifgerst präsentiert den Jugendfilm, Foto: Holger Kistenmacher
Im Filmforum, dem Schaufenster für den norddeutschen Film werden zusammen 41 Filme gezeigt, davon 14 Langfilme und 27 Kurzfilme, kuratiert von Lili Hartwig. Ihr persönliches Highlight ist die Langzeitdokumentation „Ankommen“ von Fredo Wulf, eine Weltpremiere. Es geht um 10 Jahre im Leben des Flüchtlings Alyaham, der als erster Flüchtling nach Eckernförde kam, der sich trotz Pharmaziestudiums in Jena und Arbeit in Heidelberg immer noch fragt: „Wann kommt man wirklich in Deutschland an?“
Und natürlich gibt es wieder 23 Kurzfilme aus der Abteilung „Nordic Shorts“, die ich hier aber natürlich nicht alle aufzählen kann. Aber Kurzfilmfreunde dürfen sich am Samstag des Festivals freuen auf einen langen Abend des kurzen Films im Koki, wie Kurator Sebastian Apel verriet. Und natürlich gibt es wieder jede Menge Begleit-Programme, wie den 360-Grad-Full-Dome auf dem Klingenberg, wo sensationeller Weise unter anderem der deutsche Beitrag zur letzten Biennale in Venedig von Yale Bartana: „Life in the Generation Ship“ gezeigt wird.
Auch die Retrospektive ist etwas für Kunstfreunde, denn es geht hauptsächlich um „Lichtmagie und Farbenzauber“, also um malerische Einflüsse auf den nordischen Film, wie der Leiter der Reihe Jörg Schöning befand. Berühmte Künstler wie Edvard Munch, Hilma af Klint - die fast Vergessene oder Anders Zorn, dem großen Maler-Star, dessen Werke nicht nur im Lübecker Behnhaus hängen, sondern der auch gerade eine große Retrospektive in der Hamburger Kunsthalle hat, werden vorgestellt in Film und Ton. Besonders absurd erscheint die Ankündigung über den Film „Die Abenteuer des Herrn Picasso (Tage Danielson/Schweden 1978), „ein Stummfilm ohne Stille“. Ein schräges Biopic, in dem zehn Sprachen auf einer Weise gesprochen werden, dass sie jede*r leicht versteht?!
Das Nosferatu-Fenster in den Salzspeichern, Foto: Holger Kistenmacher
Und natürlich gibt es wieder das berühmte „Nosferatu-Fenster“ in den Salzspeichern, die Filmtage-Party auf der Walli mit der acht-köpfigen Folk-Kapelle Hepta Polka, die für eine wilde Live-Nacht sorgen werden am Freitagabend, die Filmgala mit Preisverleihungen und und und.
Als Kracher zu guter Letzt hat Senatorin Frank dann bei der Pressekonferenz verkündet, dass der Künstlerische Leiter der Filmtage im nächsten Jahr sein Amt, das er seit 5 Jahren besaß, aufgeben wird. Aber auch seine Nachfolgerin ist jetzt schon bekannt: Es wird die noch-Leiterin des Kinder-und Jugendfilm-Programms: Hanna Reifgerst. Es ist also alles im Wandel - auch die Filmtage.
Man sieht sich im Kino!
Apropos: Das gesamte Programm ist ab sofort im Netz, aber Achtung! das Ticket-System ändert sich. Dieses und mehr unter www.nordische-filmtage.de