Foto: (c) Christophe Raynaud de Lage

Saison-Eröffnung auf Kampnagel in Hamburg
Humorvolle amerikanische Ballroom-Szenerie zwischen Modenschau und Voguing-Parade

Bevor im nächsten Jahr die große Umbau- und Renovierungsarbeit bei vollem Betrieb in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel über die Bühne geht, wurde letzte Woche noch einmal große Saisoneröffnung gefeiert. Legenden der Avantgarde stehen im nächsten Jahr hauptsächlich auf dem Programm, von Pina Bausch bis William Forsythe.

Ganz zu Beginn war der hoch dekorierte amerikanische Choreograf Trajal Harrell geladen, der 2024 den Silbernen Löwen der Biennale Danza in Venedig gewonnen hatte. Seit 2019 leitet er das Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble, mit dem er 2024 das Stück „The Romeo“ entwickelt und erarbeitet hat.

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Wie auf einen Catwalk laufen insgesamt 11 Tänzer*innen inklusive des lässig gekleideten Choreografen heraus aus einem filigranen Bühnenbild, das etwas von einem mittelöstlichen Haremsvorbau hat. In immer neuen und verrückten Verkleidungen erscheinen die äußerst diversen Performer und promenieren Richtung Publikum. Auf Zehenspitzen und mit ausladenden Armbewegungen. Es sind alle Hautfarben, Alter, Geschlechter, Körperlichkeit und Nationalitäten vertreten, die sich am Anfang in absoluter Lässigkeit dem Publikum in deutsch und englisch vorgestellt haben. Die feinziselierten halboffenen Wände des Bühnenbildes geben erst nur Schattenrisse frei und damit der Fantasie des Publikums freien Raum.

Unterstützt von einem wilden Musikmix aus Pink Floyd, Simply Red, Filmmusik aus dem Streifen „Diva“ oder Bluesmusik von Gary Moore, aber auch Mozart und andere Klaviermusik in Moll prasseln unermüdlich wie angenehm warmer Frühlings-Nieselregen die verschiedensten Auftritte auf das Publikum ein. Mal als Solo, dann in Gruppen, Kreisen oder lustigen Reigen. Mal total übertrieben affektiert, mal schüchtern, mal aufreizend. Masken. Kunstblumen zwischen den Zähnen, lässig bunte Hemden wie wertvolle Stolas um den Hals gelegt oder gewandet in einer römischen Robe. Die Gesichter sind mal ausdrucksleer, dann wieder voller Hochmut.

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Die gezeigten Bewegungselemente sind sehr sparsam und wiederholen sich wie ein leichter Wellenschlag am Meer. Vorgebeugte Arme mit Handhaltungen wie man sie aus dem alten Ägypten kennt oder von Vasen aus dem römischen Reich zeigen auf, dass die Tanzsprache durch die letzten Jahrhunderte und Kulturen gegangen sind, aber dabei immer gleich geblieben sind. Wie der Tanz selbst reisen auch die Musik und die Kostüme durch die Zeit und die verschiedenen Kulturen.

Aber wichtig bleibt immer der Humor und die Lust an der Bewegung. Besonders der Tanzstil des Voguing, der durch die amerikanische LGBT-Bewegung und Madonna bekannt wurde, in Verbindung mit postmodernen Tanz und Butoh-Tanz aus Japan, sowie Elementen aus Fashion, Musik und Popkultur prägen die Arbeiten von Tajal Harrell. Gleichzeitig setzt er sich kritisch mit der Tanzgeschichte auseinander und interpretiert historisches Material neu, um die vielschichtigen Ebenen des zeitgenössischen Tanzes sichtbar zu machen.

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„Tanzen wir nicht alle den Romeo?“, könnte man sich fragen. Und gerade, als ein gewisser Sättigungsgrad beim Publikum erreicht ist, schwenkt die Choreografie auf Hässlichkeit und Gesichtsausdrücken um, die an Quasimodo erinnern oder von völlig Betrunkenen ausgeführt werden, bis einige der Tänzer*innen bei einer Art „Reise nach Jerusalem“ am Ende auf der Bühne zuckend und tot liegen bleiben. In dieser bedrückenden Atmosphäre hinein rufen die Tänzer Namen und Jahreszahlen, als würden sie über einen Friedhof laufen und von den Grabsteinen die Daten ablesen. Moderner Tanz sagt eben mehr als tausend Worte.

Persönlich verabschiedet sich der Choreograf und ein Teil seines Ensembles an der Ausgangstür des Saales und nimmt Dankesworte entgegen, während das Publikum in die Vorhalle strömt, um den Eröffnungsabend in gewohnt lockerer Atmosphäre an langen Tischen und Bänken bei Wein, Käse und Brot gemeinsam mit den Künstlern des Abends ausklingen zu lassen.

Welch wunderbarer Einstieg in die neue Saison.


Fotos: (c) Christophe Raynaud de Lage

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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