Das Ensemble von „TanzOrtNord“ nimmt den Begriff „artificial“ wörtlich und interpretiert Kunstwerke. Das neue zeitgenössische Tanz-Projekt ist zugleich die Einweihung des „Tanzforums“ in St. Jürgen mit Proben- und Kursraum, Bühne und Gästezimmern.
„Und? So schön“, steht spiegelverkehrt auf dem Bild „wachgeküsst“. Die pastösen Farbblöcke sind rot-orange mit einem Akzent Kobaltblau. Die Kostüme der zwei Tanzenden, die das Bild auf der Bühne interpretieren, nehmen diese Farben wieder auf. Die Tänzer umtasten sich, nähern sich an, springen und robben, setzen Akrobatik und Körper-Pantomime ein. Die Musik dazu erzählt eigene Geschichten, kombiniert nordische Elektronik mit klassischen Instrumenten, modern arrangiert.
Foto: (c) Robert Müntz
„Wachgeküsst“ ist das erste von fünf Bildern, die vier Tänzerinnen und Tänzer in der neuen Produktion des „TanzOrtNord“ in getanzte Geschichten umsetzen. Das Projekt heißt „artificial“ und hatte am Samstag im ausverkauften Saal des Tanzforums Premiere. Zwei der Bilder sind abstrakt, das älteste stammt von einem Künstler des 17. Jahrhunderts. Die Bilder haben eines gemeinsam: Sie hängen entweder in einem Lübecker Museum oder stammen von Künstler*innen aus Lübeck.
Bilder über Sex und Tod
Evelyn Wisbar lebt als einzige Künstlerin noch. Bei der Premiere saß sie in der ersten Reihe. „Es ist eine große Ehre für mich, dass eines meiner Bilder ausgesucht wurde“, sagt sie. Das Bild sei vor zwanzig Jahren für eine Museumsnacht unter dem Motto „Märchen“ entstanden. Sie interpretierte das Motto eigenwillig: In einem kleinen „Bild im Bild“ ist zu sehen, dass ein Märchenprinz das Mädchen nicht auf den Mund, sondern auf die Vulva küsst.
Foto: (c) Robert Müntz
Danach gibt es einen harten Themenwechsel: Shiao Ing Oei, die das Projekt gemeinsam mit Ulla Benninghoven leitet, entwickelte eine Choreografie um den Lübecker Totentanz. Er wird gezeigt in Videos aus der Totentanzkapelle der Marienkirche und einem Bild von einem toten Kleinkind. In ihrer Performance setzt die rot gekleidete Tänzerin Olivia Shoesmith dem Tod im Gothic-Kostüm (Lukas Bisculm) viel Charisma entgegen. Überwinden kann sie ihn am Ende dennoch nicht.
Sehr unterschiedliche Choreografien
In den weiteren Bildern wird es humoristisch, die Bildsprache wird vieldeutiger: Es geht um Rollentausch, Temperament-Typen, vielleicht um die Hanse. Den Protagonisten auf einem Bild von Barend Graat aus dem St. Annen-Museum interpretiert Lucas Bisculm als Hanseaten mit Sinnkrise. Im letzten Bild erheben sich die vier Tänzer*innen zu TripHop-Musik aus dem Wasser. Präzise, mit Kraft und Hingabe gibt das Ensemble noch einmal alles.
Foto: (c) Robert Müntz
Dieses Stück ist besonders anspruchsvoll zu tanzen, sagt die 23-jährige Tänzerin Shoesmith. „Die Stücke sind sehr unterschiedlich. Das ist toll, aber auch herausfordernd“. Wie ihre drei Kollegen Kim Tassia Kreipe, Tommasso Balbo und der Schweizer Lukas Bisculm, machte sie eine Ausbildung in klassischem Ballett und zeitgenössischen Tanz. Fünf Wochen lang haben sie acht Stunden am Tag geprobt. Gefördert wurde „artificial“ unter anderem von der Gemeinnützigen Sparkassenstiftung zu Lübeck – und der Possehlstiftung, der Hansestadt Lübeck und dem Kulturministerium Schleswig-Holstein.
Eigenes Haus für Lübecker Tänzer
Wenn es dabei einmal spät wird, muss sich die Hamburgerin keine Gedanken mehr machen, wo sie übernachten kann. Denn mit der neuen Produktion hat der TanzOrtNord gleichzeitig das „Tanzforum“ eingeweiht, in dem es Gästeräume für Künstler*innen gibt. Im Industriegebiet Kirschkaten, etwa zwei Kilometer südlich der Altstadtinsel, hat die Truppe nun alles in einem Haus: Proben- und Workshopräume, ein Lager und die Bühne mit Schwingboden und Plätzen für etwa 60 Zuschauende.
Foto: (c) Robert Müntz
Vorher probte und spielte der TanzOrtNord 25 Jahre lang an anderen Orten, in Kirchen, dem Hansemuseum oder der Kulturwerft Gollan. Nun hat er endlich einen eigenen Spielort.
Weitere Aufführungen sind am 28., 29. und 30. März, am 3., 4., 5. und 6. April (donnerstags bis samstags um 19.15 Uhr, sonntags um 18.15 Uhr). Karten kosten zwischen zwölf und 29 Euro.
Dieser Artikel entstand für „unser Lübeck“ im Auftrag des TanzOrtNord.
Fotos: (c) Robert Müntz
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