Clown Chistirrin, Foto: (c) Thomas Schmitt-Schech

Circus Roncalli in Lübeck
Ähn...schulligung!

Entschuldigung, lieber Zirkus Roncalli, dass ich mich an der endlos scheinenden Menschenschlange vor Deinem Eingang störte! Verzeih mir auch, dass ich stirnrunzelnd die Souvenirshops und Fressstände zur Kenntnis nahm, an denen man vorbei geschleust wird. Und vergib mir, dass ich einen der Saalordner etwas ruppig fand. Entschuldigung, denn all diese kleinen Ärgernisse verblassen angesichts dessen, was Du mir in Deiner Manege geboten hast!

„Ähn...schulligung“ – so klang die geheuchelte Entschuldigung des frechen Clowns Chistirrin, wenn er wieder und wieder die Vorstellung des Weißclowns störte, der partout nicht dazu kam, einen Zaubertrick mit Tuch vorzuführen. Schließlich gab er Chistirrin die Manege frei, und dieser Kobold eroberte mit dem Moonwalk, diversen gekonnten Musik- und Gesangseinlagen, schnellen Flic-Flacs und seinem fröhlichen Charme die Herzen des Publikums im Sturm.

Überhaupt die Clowns! Wer verlegen stolpernde Dumme Augusts mit platten Gags erwartet hatte, rieb sich die Augen. Alle sieben – vom Kabarettisten über den Beatbox-Künstler, den Technikfreak, den Akrobaten, den Geschichtenerzähler und den Weißclown bis zum Comedian und Breakdancer – erwiesen sich als Herzensbrecher. Ihre kleinen Geschichtchen, Pausenfüller und Pointen verwoben sich zu einer Episodenerzählung, in der es immer wieder Anspielungen und Rückgriffe gab. Bei all dem intelligenten Theater verstanden es die Clowns jedoch genauso, mit Situationskomik zu begeistern. Und Chistirrin machte sogar noch pseudotapsig-akrobatisch bei den „Flying Jalapeños“ auf dem Flugtrapez mit.

Chistirrin und Genzi, Foto: (c) Thomas Schmitt-SchechChistirrin und Genzi, Foto: (c) Thomas Schmitt-Schech

Die Künstlerinnen und Künstler, die Roncalli-Chef Bernhard Paul engagiert, sind preisgekrönt und haben sich auf namhaften Bühnen oder Manegen bewährt. Einige mögen wahrhafte Diven sein. Doch der Clou besteht darin, dass sich jeder Auftritt geschmeidig in die Story des Abends einfügt. Ob die Roncallianer den Zusammenhang mit Stilelementen wie Farben, Lichteffekten oder Musik bewältigen oder durch die verbindenden Elemente Orchester, Ballett und Clownerie herstellen – ihr Händchen dafür ist in jedem Fall sagenhaft.

Dass der Zirkus jetzt auf Tiere verzichtet, war die Auftakterzählung des Abends. Pferde- und Elefantenbilder wurden hologrammartig auf Netzgewebe projiziert, um an die Anfänge der Institution Zirkus zu erinnern. Ab dann wurden Tiere ein paarmal von kostümierten Menschen verkörpert, etwas später tauchten Roboter an der Seite der Menschen auf, und von Tieren war keine Rede mehr. „Storyteller: Gestern, heute, morgen“ heißt das Programm, und was man als Quintessenz daraus lesen kann, ist: Zirkus begeistert Menschen immer noch – jedenfalls, wenn er zeitgemäß daherkommt.

Elefant als Hologramm, Foto: (c) Thomas Schmitt-SchechElefant als Hologramm, Foto: (c) Thomas Schmitt-Schech

Ob Adèle Fame mit ihrer Luftakrobatik, Quincy Azzaros Schlangenmensch-Handstandkünste oder die waghalsigen Passagen und Salti der Cedeños Brothers: Diese hochklassigen Artisten live zu erleben, ist etwas komplett anderes als ihre Show auf dem Bildschirm zu verfolgen. Zirkusatmosphäre heißt, den Atem anzuhalten, wenn die Konzentration der Artisten ihren Höhepunkt erreicht. Es heißt, gemeinsam zu fiebern und sich kollektiv zu erschrecken, wenn einer etwas schief von seinem Sprung aufkommt.

Zirkus heißt, sich von fetzigen Rhythmen des Orchesters anheizen zu lassen, bei waghalsigen Balanceakten ins Schwitzen zu kommen und dem Clown zu verzeihen, der einem die Popcorntüte klaut.

Vivian Paul und Natalia Rossi, Foto: (c) Thomas Schmitt-SchechVivian Paul und Natalia Rossi, Foto: (c) Thomas Schmitt-Schech

Bernhard Pauls Tochter Vivian brachte mit ihrer Partnerin Natalia Rossi in einer barock-rockigen Luftnummer den Kronleuchter zum Rotieren, es war eine Darbietung zwischen Pippi Langstrumpf, Rosenkrieg und Gefährlichen Liebschaften – und wenn man so will, damit auch eine Verbindung zwischen den Epochen. Zu Herzen, doch auf gänzlich andere Art, ging das melancholische Stück des „Lokomotiven-Clowns“ Carillon, der ein Roboterhündchen dirigierte und einer Schneiderpuppe mit Elektroherz seine Liebe gestand.

Herz und Schmerz zwischen den tollkühnen Darbietungen der Akrobaten: Im Zirkus darf es, muss es mal kitschig sein. Und weil das Roncalli-Team das Spiel auf der Klaviatur der Stimmungen beherrscht, lud es das Publikum am Ende der Gala-Vorstellung zum Walzer in der Manege ein.

Foto: Thomas Schmitt-SchechFoto: Thomas Schmitt-Schech

Natürlich tanzte auch Clown Anatoli mit – und diesmal nicht aus der Reihe. Der kleine Mann mit dem östlichen Akzent und im grünen Umhang hatte am Abend manchen Farbtupfer gesetzt. Schon auf dem Weg zum Zirkuseingang hatte er in einem stilisierten Käfig für Aufsehen gesorgt. „Vorsicht, bissiger Clown“ stand auf dem Schild an seinem Zaun. Doch das war falsch. Es hätte heißen müssen: Clown zum Anbeißen. Und das galt ausnahmslos für alle Artistinnen und Artisten.

Roncalli, Entschuldigung, dass ich Deine Vorstellung vor zwei Jahren nicht besucht habe. Dieses Versäumnis ist durch nichts wieder gutzumachen! Besonders für mich nicht.

Karla Letterman
Karla Letterman
Karla Letterman ist Krimiautorin aus dem Harz mit Leidenschaft für Norddeutschland, Nebel und Schattenboxen. Lebt seit 2017 in Lübeck. Höchst interessiert an Filmen, Literatur und Sprechkunst. Thomas Schmitt-Schech ist nicht nur Fotograf mit unbezwingbarem Hang zu Nachtaufnahmen, sondern auch nebenberuflich als Tai-Chi- und Qigong-Lehrer unterwegs. Karlas liebster Lichtfänger und Schattenboxer. www.karla-letterman.de / www.lichtblick-fotokompass.de

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