Ein kleines Giebelhaus mit schlichter Fassade, in zwei großen Schaufenstern eine zurückhaltende Angebotsdekoration, über der Eingangstür ein fröhlich lockendes Ladenschild, das ist der Auftritt von Nr. 51 in der Königstraße, gegenüber von Karstadt, gleich neben dem riesigen Eintrittstor in die König-Passage.
Im März 2017 hat Harun Bayraktar die Geschäfte „Schöner schwanger“ übernommen. Die Lübecker Filiale war zu diesem Zeitpunkt in der Fleischhauerstraße. Am ersten Oktober desselben Jahres öffnete die Boutique für Schwangerschafts-, Baby- und Kindermode in der Königstraße. „Manchmal, nach Feierabend, laden meine Frau Feride und ich Freunde ein, zünden Kerzen an und sitzen auf unserem Sofa hier und plaudern. Ein so schöner Ort, und wir können ihn täglich erleben!“, schwärmt Harun Bayraktar.
Tatsächlich ist es dem „leidenschaftlichen Kaufmann“, wie er sich selbst augenzwinkernd nennt, gelungen, die Ladeneinrichtung so transparent zu gestalten, dass jeder Besucher des Geschäftes sofort bemerkt, ein besonderes, ein historisches Haus zu betreten. Die Diele ist sehr lang und schmal, die hohe Decke wird getragen von Balken aus seltenem Eschenholz, geschlagen im Jahr 1273. Wer innehält und sich umschaut, wird entdecken, dass die Wände ringsum Spuren, Reste von Wandmalerei zeigen. Der gesamte Raum wurde um 1300 in einem Zug ornamental und figürlich ausgestaltet. Das Programm, es ist im hinteren Teil der Diele zu erahnen, ist bis heute nicht vollkommen entschlüsselt. Die Botschaft des Auftraggebers, vermutlich ein Bankier aus der hochherrschaftlichen Familie der von Morum, ist nicht wirklich enträtselt.
Königstraße 51 ist für viele Lübecker eine besondere Adresse. 1991/92 wurde das Haus vor dem Abriss bewahrt. Sogar die BILD-Zeitung berichtete in großer Aufmachung von spektakulären Malereibefunden, die nur knapp gerettet werden konnten vor dem Bauwillen von Investoren, die ein Einkaufszentrum planten. Die König-Passage eröffnete 1993, Königstraße 51 wurde überplant und blieb erhalten.
Heute nicht mehr erkennbar, hatten sich Verlag und Druckerei der Lübecker Nachrichten im Verlaufe der 100 jährigen Firmenentwicklung in mehreren Häusern der Königstraße ausgebreitet. Nun war der Verlag ausgezogen und Abrissbagger rückten an. Da verbreitete sich von Mund zu Mund das Gerücht, im Haus Nr. 51 sei ein mittelalterlicher Saal entdeckt worden, möglicherweise der Versammlungsraum einer Vereinigung vornehmer Kaufleute. Die Rede kam auf den Artushof in Danzig und das Schwarzhäupter-Haus in Riga.
Das Restauratoren-Ehepaar Linde und Karl-Heinz Saß machte sich ans Werk: Behutsam, Schicht um Schicht, wurden Raumdekorationen aus sieben Jahrhunderten vor den mittelalterlichen Brandmauern abgetragen, Rigipsplatten, Paneele, Kacheln. Kein „Artussaal“ wurde entdeckt, sondern etwas nicht nur für Lübeck Einmaliges, eine dreizonige Ganzraumausstattung. Mit seltenen Marienrosen unten, in der Mitte ein Band mit arabischen Schriftzeichen und darüber eine geschlossene Reihe von gemalten Schilden, geschmückt mit Wappen und Helmen und Helmzierden, dazwischen zarte Zweige und wilde Vögel.
Dort aber, wo sich Bewohner und Besucher in den alten Zeiten zu versammeln pflegten – das war im hinteren Teil der Diele vor den Hof-Fenstern –, dort entdeckte das Restauratoren-Paar Saß eine Scheinarchitektur, eine gemauerte und gemalte Imitation eines Gebäudes, einer Burg oder eines Schlosses. Den Eingang behütet eine überlebensgroße Christophorus-Darstellung, aus drei Fenstern schauen drei Heilige auf Thronen sitzend von oben herab. Was ist das?
Mehrere Fachaufsätze erschienen in wenigen Jahren aufeinander folgend. Die den sitzenden Heiligen beigegebenen lateinischen Schriftbänder wurden entziffert: „Das Abendgebet der Männer“ – „Nach Birnen Wein“ – „Obwohl reich, wirst Du nicht ewig leben“. (Übrigens: Wein wurde damals am liebsten nach dem Verzehr von süßen Birnen getrunken, denn der im Norden verkostete Rebensaft war sauer.)
Es blieben und bleiben Fragen: Ist der junge Heilige eine Darstellung des norwegischen Königs Olav, der um 1100 heiliggesprochen wurde, oder ist es der junge König Salomon? Wer vor der Wand steht und mit bloßem Auge hinaufschaut, wird sich fragen, warum es die Unsicherheit in der Zuordnung gibt, ein König David in mittlerem Alter und ein sehr alter Moses sind doch auch im Spiel. (Den einen erkennt man an der Leier, den anderen an einer Kopfbedeckung mit Hörnern.) Wer jedoch die Detailfotografien der Restauratoren vor sich hat, wird vorsichtig. Man sieht ein Lilienzepter in der Hand des jungen Heiligen und auf seinem Haupt trägt er eine „moderne“ Königskrone. Auch findet sich auf einem der Schilde in der Diele das Wappen des Königreichs Norwegen.
Ungelöst bis heute ist auch die Frage, warum die aufwendige, künstlerisch hochwertige Malerei schon nach wenigen Jahrzehnten um 1350 mit einem banalen Muster aus gemalten Fugen überdeckt wurde. Wir werden es eines Tages vielleicht erfahren von einem klugen, weitgereisten Leser solcher Bildprogramme wie dem in der Königstraße.
Wir sollten aber wissen, dass sich unter der Diele eine hochwertige mittelalterliche Kelleranlage befindet, die sich unter mehreren Häusern erstreckt. Und wir könnten uns daran erinnern, dass über der Diele, die uns mit ihren Heiligen ins späte Mittelalter führt, bis 1989 der Verleger Charles Coleman sein Büro hatte. Mit seinem Namen verbindet sich die 1972 abgehaltene Tagung „Rettet Lübeck“, die von seinen Lübecker Nachrichten, von Bürgermeister Werner Kock und von der Vorsteherschaft der Gemeinnützigen gemeinschaftlich getragen wurde. Damals wurde angeregt, die ganze Altstadt zu erhalten. Charles Coleman selbst sanierte große Gebäude, wie etwa zwei Brauhäuser in der Wahmstraße oder das derzeitige Hotel 1216 in der Alfstraße 38.
Und Charles Coleman bot Altstadtfreunden wie Manfred Finke, Ulrich Büning und Klaus Mai eine repräsentative Publikationsmöglichkeit. 1988 erschien das bis heute unübertroffen anschauliche Buch „Historische Häuser in Lübeck“. Der Verleger hat es nicht mehr erlebt, dass ein Stockwerk unter seinem Schreibtisch Heilige von den Wänden schauen. Ich stelle mir vor, Charles Coleman hätte sofort das Geld für die Einrichtung eines Welterbe-Zentrums im Haus Königstraße 51 locker gemacht, er war so.
Die Lübecker Harun und Feride Bayraktar werden gelegentlich aus dem Nahen Osten besucht und viele ihrer Gäste wundern sich, dass in Lübeck ein solcher Kulturschatz frei zugänglich besichtigt und privatwirtschaftlich genutzt werden kann. Das ist wohl keine ausdrückliche Absicht, sollte es aber sein: Das UNESCO-Weltkulturerbe schließt die Verpflichtung ein, das Erbe zu hüten und zu pflegen. Mit seiner Vergabe ist aber auch eine Einladung an die Welt verbunden: Kommt und seht, was uns allen gehört.
Literatur:
Manfred Finke: Lübecker Kaufmannsgeist auf der (Müll-)Kippe. Du bist zwar reich, aber du lebst nicht ewig. Lübeckische Blätter, H. 12, 6. Juni 1992, 169, 175- 178.
Michael Scheftel: Die Kammer des Herrn Bertram Stalbuc? Befunde zur Innenausstattung Lübecker Bürgerhäuser an Brandmauern aus dem späten 13. Jahrhundert. In: Manfred Gläser (Hrsg.): Archäologie des Mittelalters und Bauforschung im Hanseraum. Eine Festschrift für Günter P. Fehring. Rostock 1993, 409-416.
Adolf Clasen: Heiligenbilder und trinkfrohe Sprüche. Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 76, 1996, 55-90.
Thomas Brockow: Die mittelalterliche Dielenausmalung im Lübecker Haus Königstraße 51. Der Wagen 1997/98, 235-253.
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Kommentare
Trotz Verbots durch die Denkmalbehörde, trotz Androhung, wg. Hausfriedensbruchs verklagt zu werden, trieb ich mich damals täglich auf der Baustelle herum und versuchte zu dokumentieren, soweit möglich. Ich war Zeuge. Das verbietet mir, den Teppich des Wohlwollens auszurollen, weil immerhin doch die „Königsdiele“ gerettet ist und nette Menschen den sympathischen „Schöner schwanger“-Laden darin betreiben, der 7. oder 8. Mieter inzwischen. Ich vergesse auch nicht, welch infame Beleidigungen mir (und anderen Kritikern) damals von den am Grundstückgeschäft beteiligten LN „zuteil“ wurden, von Journalisten, die eigentlich einem Berufseid unterstehen. Ich war „fertig“, mental und auch physisch. Immerhin haben die Proteste zu einer „Abmahnung“ der Stadt durch die UNESCO geführt.
Insofern bedient Manfred Eickhölters Bemühen um philologische Auskünfte zu den hinter und über den „Schöner-Schwanger“-Regalen erkennbaren gotischen Malereien eben nur ein sicherlich sehr schönes Neben-Thema, das alle kritischen Einsichten harmoniebedürftig überklebt. Die auf der Zunge liegende Frage, weshalb dieses bau- und kunstgeschichtlich unerhört bedeutende Denkmal nicht das von der UNESCO geforderte „Welterbe-Zentrum“ Lübecks geworden ist, wäre ja leicht auszusprechen (und zu beantworten) gewesen. – Die Literatur-Auswahl ist ziemlich knapp, aber zu dieser Darstellung waren Literatur und Quellenbelege auch kaum erforderlich.
Dies noch zu meinen Büchern: Das von Manfred Eickhölter (im Text) gepriesene Buch „Historische Häuser in Lübeck“ ist von 1989 und sagt kaum etwas über Malerei-Befunde. Die „repräsentative Publikationsmöglichkeit“ bot uns nicht Charly Coleman, sondern BM Knüppel, an dessen Bemühen um Aufwertung der Denkmalpflege wir (= Althaussanierer, BIRL) „auf Augenhöhe“ partizipieren durften. Das Buch mit Knüppel als Co-Autor ist ein Ergebnis der Rotarier-Connection von Knüppel zu Coleman. – Mehr über Wandmalerei in Kö 51 ist in „UNESCO-Weltkulturerbe Altstadt von Lübeck“ (2006) zu erfahren, S. 213 ff. – Sogar „116mal Lübeck“ (2000) ist auskunftsfreudiger.