„Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.“
Es ist dieser erste Satz des neuen Romans von Ulrich Woelk, der nachdrückliche Hinweise der Bibliothekarinnen in unserer Bücherei, es handele sich um eins der schönsten Erzählstücke dieses Jahres, ins Leere laufen lässt. „Ach, nein, wissen Sie, mit so einem schweren Thema möchte ich mich momentan nicht beschäftigen.“
Tobias Ahrens, der Ich-Erzähler in Woelks Romans, verfügt über die Gabe, seine Erinnerungen in faktengesättigten Beschreibungen knapp und wunderbar anschaulich zu Papier zu bringen. Sein Blick auf Familie, Verwandte, die Nachbarn, das Haus, den Wohnort bei Köln und sein früh gefestigtes Interesse an Weltraumfahrt ist offen für komplexe Zusammenhänge. Die aufbrechende Neugier des damals Elfjährigen an einem „es“ („Ich möchte es öfter“, hört Tobi Papa zu Mama sagen) tritt fast störend in sein Leben ein. Private und politische Auf- und Umbrüche im Jahr 1969 werden vom Ich-Erzähler geschickt verwoben. Sein Blick zurück ist ein behütender, der die Wahrnehmungsweisen eines Jungen respektiert, ja, gleichsam zum Leitfaden seiner Erzählung macht.
Tobi war 12 (fast), als Rosa, fast 13, mit ihren Eltern Wolfgang und Uschi in das Haus neben dem von Eva und Walter Ahrens einzogen. Wolfgang (Wolf), Dozent für Philosophie („Bloch, Adorno, Frankfurter Schule, wenn Ihnen das etwas sagt.“) und Uschi, freiberufliche Übersetzerin englischer Unterhaltungsromane, wohnten bisher in Griechenland, aus dem sie wegen des Militärputsches geflohen sind. Sie bezeichnen sich selbst als Kommunisten. Walter Ahrens, Tobis Papa, ist Ingenieur und sehr stolz auf einige technische Baudetails seines Einfamilienhauses. Tobis Mama Eva ist eine anfangs blasse, stille Hausfrau. Tobi fühlt sich dem Vater eng verbunden, weil der sich, genau wie er selbst, für die geplante Mondlandung der USA interessiert. In Tobis Zimmer steht das große Modell einer Saturn-V-Trägerrakete. Es war jener Sommer 1969, in dem Tobi sich seine erste Jeans aussuchen durfte, er ging mit Mama erstmals in einen der neuen „Stores“ direkt neben dem Kölner Dom. Mama probierte auch eine Jeans an. Tobi sieht seine Mutter im Spiegel wie verwandelt, fremd, er wünschte sich, dass sie die vertraute, bekannte Person bliebe.
Die neuen Nachbarn finden schnell Gefallen aneinander. Rosa macht Tobi darauf aufmerksam, dass die USA einen bösen Krieg in Vietnam führen. Sie beginnt, Tobi aus erotischen Romanen vorzulesen. Und sie beginnt, eigene Erzählungen zu schreiben.
Tobi ist bitter enttäuscht, als er vom Fernsehgerät weggeschickt wird, weil sich die unmittelbar bevorstehende Landung ja doch noch verzögern würde. Er soll allein mit Rosa im leeren Haus der Einhards übernachten, kehrt aber unerwartet mitten in der Nacht nach Hause zurück. Und dort wird er Beobachter eines Geschehens, das die Familien auseinandersprengt. Tobi zieht zum Vater, wendet sich brüsk von der Mutter ab.
Dann wendet sich der autobiografische Erzähler seiner Gegenwart zu. Tobias ist Astrophysiker geworden und arbeitet seit mehr als zwei Jahrzehnten bei der Europäischen Raumfahrtagentur in Darmstadt an dem Projekt, eine unbemannte Sonde auf einem Meteoriten landen zu lassen. Zufällig entdeckt er, inzwischen 57 jährig, die Ankündigung einer Lesung der bekannten Autorin Rosa Leinhard auf der Frankfurter Buchmesse. Tobias geht hin, erkennt seine Rosa von damals an ihrer Stimme, lässt sich, von ihr unerkannt, ihr neuestes Buch signieren. Rasch liest Tobias Ahrens alle Romane Rosas und ihre Biografie, und er findet keine Zeile über jenen Sommer 1969. Dann schreibt er seinen Bericht und setzt an dessen Ende den Satz: „Morgen werde ich ihn abschicken.“ Das Buch endet, im Kopf des Lesers beginnt ein neuer Roman.
Ulrich Woelk: Der Sommer meiner Mutter, C.H.Beck-Verlag, 4. Auflage, September 2019, Amazon
Das Buch ist in den inhabergeführten Buchhandlungen Belling, Prosa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.
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